Über eine grundsätzliche Infragestellung binärer Welten im Stück GABRIEL von George Sand
B.S.-G.: Sébastien Jacobi, was ist das Besondere an George Sand, an ihrem Universum?
S.J.: George Sand deckt mit ihrem biographischen Hintergrund und erzählerischen Ausrichtung ein ganzes Jahrhundert ab. Im Stile des 19. Jahrhunderts ist sie philosophische Autorin und mit ihren Erzählungen zugleich eine Sozial-Reformistin. Das ergibt ein ganz eigenes Universum.
B.S.-G.:Was ist das für eine Zeit?
S.J.: Das ist eine Zeit, in der das Individuum, der individuelle Blick populär wird. Dennoch ist er angebunden an ein gesellschaftliches Gesamtgefüge. Ich persönlich habe ein ausgesprochenes Faible für diese Literatur. Bei den großen Autor*innen wie Sand, Proust, Balzac, Dostojewski, Hugo wird das Leben als Roman betrachtet und ist gesellschaftlich relevant auch im Profanen. Auch George Sand spült gewisse Perspektiven einmal durch das Individuum hindurch und erhält sehr subjektive Betrachtungen von Welt, die wiederum auf das Große-Ganze zurückwirken. Ihr geht es nicht um Bebilderung von Zuständen, sondern um den Menschen in seiner sozialen Dimension und seinen sozialen Forderungen.
B.S.-G.:Wenn du von der menschlichen Autorin sprichst, meinst du damit, dass sie individualistisch strebende Menschen beschreibt oder eher einer Art soziale Ausrichtung ihrer Stoffe?
S.J.: Letzteres, genau. Sie beobachtet hart, beschreibend, arbeitet autobiographisch, aber bleibt fiktiv, und fordert reelle gesellschaftliche Veränderungen ein. In GABRIEL ist es ein veränderter Status der Frau. Oder fast noch mehr die gänzliche Abschaffung der geschlechtlichen Kategorie, mit der sie sehr viel Ungleichheit verband. Nie sind ihre Geschichten privat, immer von gesamtgesellschaftlichem Belang.
B.S.-G.:Wie tut sie das?
S.J.: Über eine Art Ideendrama mit philosophischer Argumentation, die man sich als Publikum aber ganz psychologisch und emotional vorstellen muss. Und das ist sehr modern! Es gibt Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Textflächendramen, aber wiederum auch zu shakespearesker Komik oder auch Blutrünstigkeit. Auch eine Tarantino-Note sehe ich in ihr – sie liebt das absurd Dramatische, Mantel-Degen-Geschichten, das Aufs-Ganze-Gehen. Darin ist sie höchst realistisch und filmisch.
B.S.-G.:Du hast nun nicht das gesamte 200-seitige Drama auf die Bühne gebracht, sondern hast dich als Regisseur fokussiert: auf das Dramatische, das Vorantreibende, auf die Grundideen. Welches sind das?
S.J.: Was ich verschlankt habe, um stärker vom Heute zu erzählen, ist ein gewisses gesellschaftliches Machtgefüge, ein religiöses Machttableau. Das Herrschaftsgefüge, benannt mit dem alten Prinzen Jules, fand ich hingegen als Grundaufstellung sehr hilfreich, um den Sprung in die Gegenwart zu schaffen: die Distanz zu einer märchenhaften Handlung mit Schloss und Adel lässt sich ohne Weiteres auch auf den Abgesang des weißen alten Mannes lesen. Ich habe mich in meiner Fassung auf die Entwicklung von Gabriel konzentriert; auf seinen/ihren Bewusstseinsprozess und Anspruch auf Selbst- statt Fremdbestimmung. Sand nannte das »Freiheit«.
B.S.-G.:Macht es einen Unterschied im Übersetzen, wenn du weißt, was du auf der Bühne erzählen willst?
S.J.: Ich mache Regie aus dem Gefühl oder den Erfahrungen eines Schauspielers heraus, gehe sehr von der Logik des Spielers aus – wie ich zu einer Form, zu einer Aussage komme. Ähnlich gehe ich auch die Übersetzung an: Ich habe versucht die Sprache zu erhalten, mich bewusst gegen eine Modernisierung der Sprache entschieden, die Höflichkeitsform »Ihr/Euch« ist zudem genderneutral. Mein Anspruch war stets eine Gesamtübersetzung zu denken – genutzt habe ich die Übersetzungsarbeit am gesamten Stück letztlich, um zu einer Fassung zu gelangen, einen Ausschnitt zu wählen. Was interessiert mich konkret für ein szenisches Erzählen? Welche Situationen, Dialoge und Konflikte sehe ich mit welcher Personnage erzählt? Welche Figuren brauche ich? Wie rhythmisiere ich den Text für ein szenisches Geschehen?
B.S.-G.: Dient die Inszenierung der Sprache oder die Sprache der Inszenierung?
S.J.: Beides. Die »alte«, vielleicht fremdartig formulierende Sprache ist mir ein wichtiges inszenatorisches Mittel: Über Sprache eine gewisse Distanzhaltung beim Publikum zu erzeugen, erleichtert die Draufsicht und schafft Bereitschaft sich der Aktualität auszusetzen. Einen vermeintlichen Schritt weiter weg zu stehen, tut der Kunst also gut. Im Falle von GABRIEL können Genderfragen weitaus allgemeingültiger betrachtet werden. Sand war in der sozialen Debatte sehr weit – so wie ihre Zeit, wodurch sie auch so zeitgemäß wirkt, aber eben mit einer Begrifflichkeit von 1837. Das Aushandeln und Sich-Ausprobieren in diversen Rollen ist Gegenstand von GABRIEL, so auch von Theater an sich – Geschichte wie Form sprechen sich gegen starre Identitäten aus.
B.S.-G.:Die Figur Gabriel, die wir am Ende sehen, fordert ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Veränderbarkeit von Identitätsvorstellungen ein, und zwar unabhängig vom biologischen Geschlecht.
S.J.: Deshalb gehe ich in der Inszenierung auch sehr stark über das Bild der Kunst – Gabriel ist ein/e Künstler/in, die eben diese andere Logik, diese performative Sicht verfolgt. Gesellschaftliche Normen aus einer anderen Position heraus in Frage zu stellen ist ihr Bestreben. Das Stück geht nicht von befreiten Individuen aus, es geht nicht um diese permanente individualistische Selbstbestimmung, sondern um die grundsätzlichere Infragestellung binärer Welten.
Sébastien Jacobi erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/Main. Festengagements führten ihn an das Theater Basel, Theater Dortmund, Schauspiel Köln und an das Schauspiel Frankfurt. Darüber hinaus gastierte er u.a in Mainz, Darmstadt oder Berlin und arbeitete immer wieder auch als Regisseur . So inszenierte er in Den Haag und Stockholm im Auftrag des Schauspiel Frankfurts für das Dramaten sowie am Schauspiel Frankfurt, dem Theater Bielefeld und dem Staatstheater Stuttgart. In Saarbrücken waren bisher seine Bio-Pics »Reise Reiser« über den Sänger Rio Reiser und »Mélodie! Maladie! Mélodrame!« über die Schauspielerin Ingrid Caven zu sehen.
Im Rahmen des Symposiums zu Theaterübersetzung »Primeurs Plus« wird Sébastien Jacobi Impulsgast sein und über sein Verhältnis zu Übersetzung, Sprache und Inszenierungsarbeit sprechen: www.festivalprimeurs.eu/primeurs-plus.
Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin und Leitung Festival Primeurs
Du schreibst die Stücke, die du inszenierst meist selbst. Wie ist bei dir das Verhältnis von Schreiben und Inszenieren?
Also geschrieben habe ich schon immer. Das Schreiben für das Theater wurde aber erst durch das Regiestudium initiiert.
Zum Probenbeginn gab es keinen fertigen Text, sondern du hast das Stück mit Ensemble und Team gemeinsam entwickelt. Ist das deine übliche Arbeitsweise?
Es gibt auch Stücke, die am Schreibtisch entstehen, z.B. »Hypnos«, das beim Heidelberger Stückemarkt nominiert wurde. Aber im Prinzip will ich bei einer gemeinsamen Arbeit nicht alles vorgeben und kontrollieren, sondern die kreativen Kapazitäten aller nutzen. Bei der Filmvorlage geht es ja um einen Chirurgen, der seiner Tochter die Gesichter anderer Frauen transplantiert und sie total dominiert. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem Autor, der den Text für eine Schauspielerin schreibt, und diesem Vater. Das Thema hat sich in meinem Arbeitsprozess seltsam wiederholt. Das wollte ich kreativ nutzen.
Im Sommer 2021 bist du für ein Stipendium am Institut für Digitaldramatik des Mannheimer Nationaltheaters nominiert worden. Gibt es für dich Parallelen zwischen Computerspielen und Theater oder muss man für digitale Formate ganz anders schreiben?
Videospiele und Theater sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich. Beim Videospiel trifft man als Spieler Entscheidungen, die den weiteren Spielverlauf bestimmen, was im Theater eher nicht der Fall ist. Trotzdem ähneln sich beide in der Funktionsweise der Blickführung, die sich z.B. sehr vom Film unterscheidet. Im Film kann man den Blick der Zuschauer lenken, indem man Sachen, die man sehen soll, ins Bild rückt, z.B. durch Großaufnahmen. Bei Videospielen und im Theater hat man diese Möglichkeit nicht, man muss Wege finden, um die Aufmerksamkeit zu leiten. Ich denke, da können Videospiele und Theater viel voneinander lernen. Ich war mal bei einem Vortrag über das Thema Blickführung von Leuten, die 3D-Filme produziert haben. Die hatten in einer Szene extra eine fliegende Taube eingebaut, weil man dann eher dieser Taube mit den Augen folgt und weiter vorne hinguckt. Solche Effekte sorgen dafür, dass die Leute mitbekommen, was im Spiel gerade wichtig ist. Und um Blickführung geht es auch auf dem Theater. Wohin leitet ein bestimmtes Licht die Blicke der Zuschauer, welchen Ton setze ich ein, um die Konzentration der Zuschauer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Was diese szenischen Vorgänge angeht, sind Videospiele und Theater sehr nah beieinander. Es gibt Events, die werden im Spiel dadurch ausgelöst, dass man etwa an einen bestimmten Ort geht oder dass eine bestimmte Zeit verstreicht. Also als praktisches Beispiel: Eine Figur setzt sich an einen Tisch, dadurch fängt die Kellnerin an, auf sie zu zulaufen, um sie dann zu fragen, was sie trinken möchte. So sind im Grunde auch Theater Szenen organisiert, die ganze Theatermaschine hat solche Abläufe. Wenn die Schauspielerin Anne Rieckhof sich in »Augen ohne Gesicht« (»Daughter`s Cut«) in der Doktorszene nach vorne dreht und anatmet, dann gibt es den Lichtwechsel und den Soundwechsel und dann sagt sie den Satz und auf der emotionalen Ebene ist das dann der Triggerpunkt, an dem die Schauspielerin Emilie Haus darauf reagiert. Viele Vorgänge im Theater lösen einander auf diese Weise aus, auch in ganz psychologischen Stücken, die sich scheinbar frei entfalten. In meinen Inszenierungen greife ich das oft auf und mache solche formalen Elemente spielerisch sichtbar.
Wenn der Scheinwerfer in deiner Inszenierung z.B. erst auf das Telefon schwenkt, bevor es zu läuten beginnt?
Ja, das ist z.B. so ein Moment, wobei der Scheinwerfer wiederum von dem emotionalen Moment ausgeht, den die Schauspielerin gerade spielt.
Wenn du über Formate Digitaler Dramatik nachdenkst, würde dir da eher ein Projekt einfallen, das komplett im digitalen Raum stattfindet oder denkst du über Mischformen nach, bei denen immer noch Leute im Zuschauerraum zusammenkommen?
Ich fände es grundsätzlich interessant, beides zu vermischen, also z.B. Molière in Minecraft zu spielen (1). Aber noch spannender finde ich die Herausforderung, Spiel-Konzepte auf Inszenierungen zu übertragen. Da gibt es nämlich sehr interessante Ideen, Ästhetiken und Geschichten. Also z.B. das Spiel-Moment, dass der/die Spieler*in das Spiel durch Entscheidungen selber eingreift. Und das wirklich als Entscheidungsbaum, wo solche Entscheidungen den Theaterabend total unterschiedlich sein lassen. Oder man könnte eine Art Fernsteuerungsidee umsetzen. Ein*e Schauspieler*in hat eine Kamera, die eine Third Person-Perspektive einführt, mit der sie sich in einem Siedler artigen Raum bewegt (2). Das sind jetzt Möglichkeiten, die es in Ansätzen schon in Theaterinszenierungen gibt und nur erste Ideen. Aber man kann da sicher noch mehr übertragen und weiterentwickeln, das für eine bestimmte Ästhetik nutzen. Ich habe zumindest Lust darauf.
Das Gespräch wurde von Maxine Theobald transkribiert.
(1) (Anm.: Minecraft ist ein Sandbox-Computerspiel, bei dem der Spieler Konstruktionen, wie Gebäude oder Schaltkreise aus zumeist würfelförmigen Elementen in einer dreidimensionalen Welt erschafft und sich darin bewegt.)
(2) (Anm.: Die Siedler ist eine Computerspielreihe, bei dem es darum geht durch geschickte Strategien eine Siedlung aufzubauen)
»Die Bücher sind nicht dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch neuer Frische sich für den Leser ergibt.« Hermann Hesse
Ich bin Geisteswissenschaftlerin. Bücher, Essays, (Fach-)Zeitschriften, Aufsätze, Hausarbeiten, in meinem Falle auch Klavierauszüge oder Partituren. Schrift und das Lesen selbiger bestimmten meinen (Studien-)Alltag.
Doch irgendwann gingen mir die Lust und die Leichtigkeit des Lesens verloren. Lesen war (wissenschaftliches) Mittel zum Zweck, diente der Beschaffung von Wissen. Die Texte, die ich las, wurden immer komplexer und komplizierter, eine gleichermaßen durchaus spannende wie zermürbende Zeit.
Irgendwann scheute ich das Lesen zur (vermeintlich) reinen Zerstreuung. Standen nicht Brahms, Beethoven oder Bach auf dem Titel, erschien es mir wie ein Verrat an der Zeit, die ich zum Studieren nutzen sollte.
Irgendwann erzählte ich davon einem mir sehr geschätzten Dozenten aus meiner Bayreuther Studienzeit, der einigermaßen erstaunt, wenn nicht gar empört reagierte. Und er sagte etwas, was mir eigentlich hätte klar sein sollen. Dass jedes Buch, möge es auch noch so trivial erscheinen, unseren Horizont erweitere. Ja, so einfach kann es manchmal sein.
Jeder Krimi, jede Biografie, jeder Liebesroman, jede Fantasiegeschichte oder jeder Reisebericht erweitere meinen Blickwinkel. Natürlich, die eine Geschichte vielleicht mehr als die andere, aber selbst wenn ich erkenne, dass ich in einem Buch nichts erkenne, so bin ich damit schon weiter als ohne es gelesen zu haben. Und so läge es an mir, das Buch in meinen Bezugsrahmen zu setzen, Neues zu erkennen, Altes zu bestätigen oder zu widerlegen. Und außerdem, ergänzte er, täte es dem Hirn auch einfach mal gut, keinen Berg zu erklimmen, sondern nur geradeaus zu laufen.
Dieses Gespräch gab mir die Freude am Lesen zurück. Und das (Selbst-)Bewusstsein, dass alles, was ich lese, ob Adorno oder Agathe (Christie) auf dem Umschlag steht, mir eine Welt offenbart, die mir ohne das Lesen verborgen bliebe.
Noch heute bildet das Lesen eine Grundlage meines Berufes, und meines privaten Seins. Und tatsächlich erkenne ich, mit kleinen Abstrichen hie und da, in jeder Lektüre etwas, das sich auf die vielseitigen Aspekte des Theaterschaffens übertragen lassen. Sei es politisch, soziologisch, historisch oder manchmal auch humoristisch.
Lesen verbindet, es verbindet uns als Gesellschaft, es gibt Anlass zum Diskurs, zur Diskussion, zum gemeinsamen Reden, Streiten, Lachen oder vielleicht auch Weinen. Und so habe ich meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sich so auf ihrem Bücherstapel sammelt.
Den Anfang macht Chefdramaturg Horst Busch:
Zum Ende der Spielzeit werden die Bücherstapel auf meinem Schreibtisch, im Wohnzimmer und neben dem Bett immer höher. Ferienzeit heißt für mich auch Lesezeit und so freue ich mich u.a. auf die Lektüre ABENDFLÜGE der englischen Autorin Helen Macdonald. Schon die erste Erzählung „Nester“sensibilisiert für die gleichermaßen bedrohte wie rettende Verbindung von Mensch und Natur. »Sich an der Komplexität der Dinge zu erfreuen.« – Was für eine wunderbare Einladung!
Aber auch auf das neuste Buch Bernd Stegemanns ..DIE ÖFFENTLICHKEIT UND IHRE FEINDE wurde von mir ganz nach oben auf den Lektürestapel gelegt. Von seinen Reflexionen über Kommunikation, Gesellschaft und Öffentlichkeit verspreche ich mir interessante Anregungen für die kommende Theatersaison mit unserem Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT!
Und natürlich stehen diverse Werke des Autors Friedrich Dürrenmatt auf meiner Leseliste. Als Vertiefung unserer Auseinandersetzung mit seiner tragischen Komödie DER BESUCH DER ALTEN DAME kann ich seine Erzählung MONDFINSTERNIS nur empfehlen.
Für unsere neue Kollegin in der Musikdramaturgie Anna Maria Jurisch geht es im Sommer vom fernen Linz nach Saarbrücken. Zeit zum Abschiednehmen:
Da ich nach 10 Jahren in Österreich nach Deutschland zurückkehre, ist Daniel Wissers Roman »Wir bleiben noch« mein persönlicher Abschied von einem wunderbaren, komplexen Land: Eine Familienerzählung, die auch die Erzählung der Sozialdemokratie in Österreich ist, die auch die Erzählung von der Macht der Boulevardpresse und vom politischen Rechtsruck Österreichs ist. Bei Daniel Wisser dürfte das aber keine trockene Lektüre werden, sondern sehr komisch, einfühlsam und berührend. Sein letzter Roman »Königin der Berge« war eine Achterbahn der Gefühle für mich und ist eines meiner liebsten Bücher.
Der Sommer ist durchaus auch die Zeit des Zugfahrens:
Lorraine Daston ist Direktorin des Max Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und eine wahnsinnig spannende Denkerin. »Against Nature« stellt die Frage, warum wir als Menschen mit solcher Hingabe nach (moralischen) Vorbildern für unser Denken und Handeln in der Natur suchen, warum wir unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Anstand und Rationalität einordnen in eine Form der »natürlichen Ordnung«, also zwischen natürlich und unnatürlich entscheiden. Es ist ein kleines, schmales Buch, das wahrscheinlich auf einer langen Zugfahrt seine Chance findet, vermutlich keine ganz leichte Lektüre, aber ein vielleicht toller Denkanstoß.
… und des Reisens:
Für mich ist der Sommer die Zeit für Reiseliteratur, am besten natürlich auch etwas über die Gegend, in die man selbst reist. Nun ist Graham Greene in den 1930er Jahren zu Fuß durch Liberia gereist – das werde ich nicht so schnell nachmachen, aber das Gefühl von Aufbruch und Entdecken eines fremden Landes, das Sich-dem-Unbekannten-Aussetzen ist für unsere Zeit sicher wichtig und inspiriert mich im Moment.
(Graham Greene hat die Reise mit seiner Cousine unternommen, die ihren eigenen Reisebericht darüber veröffentlich hat, aber das Buch ist überall vergriffen, vielleicht finde ich es ja bis zum nächsten Sommer!)
Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb hat empfiehlt:
Diese Sprache bringt eine ungekannte Welt hervor. Wunderlich. Dicht. Eine Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl, nannte die Kritik Iris Wolff. Eine andere Perspektive auf Gemeinschaft und Welt: Sieben Figuren im Siebenbürgen des vergangenen Jahrhunderts – radikal subjektive Gedankenwelten verweben sich zu einem Sound einer vergangenen deutschen Kultur inmitten des Vielvölkerstaats Rumänien. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020.
»Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren.«
Leïla Slimani, Le pays des autres / Das Land der Anderen, Luchterhand Literaturverlag 2021
Diese Reise geht in die Zeit der marokkanischen Unabhängigkeit nach Marokko – hier ist einmal die Europäerin in der Fremde. Auf diese Perspektive freue ich mich.
Schauspielerin Verena Bukal schließt sich diesem Tipp an, auch auf ihrer Leseliste steht »Das Land der Anderen«:
Dieses Buch nehme ich mit auf Urlaub. Der neue Roman von Leila Slimani – eine französische Frau folgt ihrem marokkanischen Mann nach Marokko und erlebt »Integration von der anderen Seite«. Es ist als Beginn einer Trilogie gedacht.
Benjamin Jupé, Solo-Cellist des Saarländischen Staatsorchesters, hat einen Tipp für Fans der Barockmusik oder alle, die es werden wollen:
Dieses Buch ist eine super Quelle um ein Verständnis zu entwickeln, wie vielseitig das Vibrato in der Barockmusik eingesetzt wurde. Gründlich widerlegt das Buch die unter Musikern verbreitete Annahme, Vibrato sei eine Erfindung der Romantik. Original Zitate belegen: zu jeder Zeit wurde vibriert und über den Vibrato Geschmack gestritten. Eine sehr bereichernde Lektüre!
Unser Studienleiter Martin Straubel empfiehlt hingegen…
Mein Lese-Tip für die Ferien: gar nicht lesen, sondern schreiben. Zum Beispiel mit Hilfe des Adorno Textgenerators.
Aus Thorsten Köhlers Büchstapel, Leiter der sparte4 und Schauspieler, stechen zwei Bücher besonders hervor:
Kazuo Ishiguro: »Klara und die Sonne«
In Ishiguros Roman denkt eine Künstliche Intelligenz sehr poetisch über das Leben und die Menschen nach. Klara, entwickelt für Jugendliche, ist eine Art beste Freundin auf dem Weg ins Erwachsenenalter, und eben darin problematisch: denn wie soll ein Spielzeug reagieren, welches Freundschaft und Liebe empfinden kann, wenn man es ablegt, weil man ihm entwachsen ist?
und
Charlie Kaufman: »Ameisig«
Kaufmans AMEISIG füllt die Lücke, die Foster-Wallace hinterlassen hat. Ein epischer Roman für Cineasten, und Filmliebhaber wie -hasser gleichermaßen – abgehoben, unanständig, ätzend und lustig zugleich – wer Kaufmans Filme wie ADAPTION, BEING JOHN MALKOVICH oder ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND liebt, wird seinen Debütroman verschlingen. Deutschlandfunk Kultur: »…von einer kosmischen Chuzpe.«
Auch aus dem Vorzimmer des Generalintendanten kommen Literaturtipps. Sekretärin Christine ter Braak und Ehemann Gerd ter Braak empfehlen Katzen, Geheimnisse und 1 Minute für sich:
»Gespräche mit meiner Katze« von Eduardo Jáuregui
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein absolutes Fable für Katzen habe, was natürlich bedeutet, dass ich Euch eine entsprechende Lektüre empfehle. Mir wurde das Buch von einem Menschen geschenkt, der Katzen überhaupt nicht mag. Aber er hat sich überwunden und ein Katzenbuch gekauft, weil er e mir eine Freude machen wollte. Sehr nett. Nicht wundern, die Katze im Buch – SIBILA genannt – kann reden. Aber ehrlich gesagt, habe ich oft das Gefühl, dass meine beiden Katzen auch mit mir reden. Im Buch heißt es, »Es gibt viele Wege zum Glück, aber Katzen kennen die besten Abkürzungen.« Viel Spaß beim Lesen. Christine ter Braak
»Das Erbe« von Ellen Sandberg empfiehlt Gerd ter Braak:
Eine lesenswerte Sommerlektüre: Eine junge Frau aus Berlin erbt überraschend ein Haus in München – ein Vermögen. Aber das Haus birgt ein dunkles Geheimnis: ein spannender Roman um Vertrauen, Gier, Moral und um den eigenen inneren Kompass.
Der Urlaub kann außerdem für bewusste Zeit mit sich selbst verbracht werden, Selbstfürsorge lautet ein Wort der Stunde (oder Minute):
»Eine Minute für mich« von Spencer Johnson
Ein kleines Buch – keine schwere Kost, leicht zu lesen – über den Umgang mit sich selbst und auch mit anderen Menschen. Das Buch hilft, einmal deinen Blickwinkel auf das, was dich ärgert, zu ändern, wodurch vieles leichter wird. Man kommt zu einem Bewusstsein wie, »ich trage die Antwort in mir« oder »der Frieden beginnt bei mir«. Was will man mehr! Christine ter Braak
Schauspielerin Christiane Motter verschlägt es mit Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita« literarisch nach Moskau:
Ein aberwitziger Roman, der mich mit seinen drei Strängen über einen Schriftsteller und seine Geliebte, Pontius Pilatus und über das Leben in Moskau in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts in seinen Bann zog. Verwirrend, satirisch, berührend, zauberhaft, perfekt fürs Abtauchen aus der (Corona-) Realität in eine andere Welt. Viel Freude beim Wegdriften.
Für Sopranistin Valda Wilson hält die kommende Spielzeit wieder spannende, aber durchaus streitbare (Frauen-)Figuren bereit. Zeit, sich mit dem Frauenbild in Opern auseinanderzusetzen:
Schauspielerin Emilie Haus bereichert ab der nächsten Spielzeit unser Schauspielensemble und empfiehlt folgende Werke:
Tieftraurig und amüsant über die Gesundheit und Ängste eines Schauspielers.
oder auch
Ein humorvoller Roman über linksliberale Hausprojekte, Kommunikation und das Ziel einer gerechteren Welt. Beides für mich bewegende Themen.
Betriebsdirektor Alexander Reschke ist Spezialist für CD-Aufnahmen und Opernstimmen. In Vorbereitung für unsere erste Premiere in der Sparte Musiktheater »Ariadne auf Naxos« haben ihn folgende Sängerinnen besonders geprägt:
Die beste Zerbinetta des 20. Jahrhunderts ist für mich Edita Gruberova. 100 Mal hat sie diese Partie gesungen.
Meine Lieblings Ariadne Tomowa Sintow (für mich auch die mit der größten Leidenschaft und Emphase), auch meine erste Live Ariadne 1983 (insgesamt 4 x Live bis 1991).
Mit der folgender Aufnahme bin ich aufgewachsen. Kempe einer wichtigsten Strauss Dirigenten. Besetzung durchwegs sehr gut und homogen. Besonders auch hier Ariadne und Zerbinetta. Aufnahme von 1968.
Schauspieler Fabian Gröver rechnet ab, zumindest beim Lesen Sibylle Bergs:
Eine pointierte, ehrliche, böse und auch verständnisvolle Abrechnung mit einer Gesellschaft, die wir nicht verhindern konnten oder wollten. Ist für Leser*innen verschiedener Generationen geeignet und bietet ein Erregungspotential von Heiterkeit bis Trübsinn. Die Sprache ist teilweise komplex bis herausfordernd, aber immer eine Freude!
Der 1. Konzertmeister des Saarländischen Staatsorchesters, Wolfgang Mertes, begibt sich mit Gustav Mahler auf dessen letzte Reise. Wie treffend, dass wir im 7. Sinfoniekonzert Mahlers 7. Sinfonie spielen.
Über die letzte Schiffsreise Gustav Mahlers als dahinsiechender kranker Mann, der sein Leben Revue passieren lässt.
Auf der Bestseller-Liste des Schauspielers Jan Hutter findet sich der ein oder andere Klassiker:
»Freiheit« von Jonathan Franzen (der langweiligste Klappentext aber das beste Buch).
»Liebe in Zeiten der Cholera« von Gabriel García Márquez (für alle die, die wie ich davor, nicht an die grosse Liebe glauben, aber gerne eines Besser belehrt werden wollen) .
»IT« von Stephen King (ein unverfilmbares Buch, das neben dem Horror der Kleinstadt & des Erwachsenwerdens, locker lässig und ganz nebenbei, ein Buch über Freundschaft ist. Spoiler: Ein Clown kommt auch vor.)
Schauspieldramaturgin Simone Kranz fesselte zuletzt die Biografie Anne Beaumanoirs:
Was bringt einen dazu, sich politisch zu widersetzen und welchen Preis zahlt man dafür? Fasziniert von der Biographie der 1923 in der Bretagne geborenen Anne Beaumanoir, die sowohl während der deutschen Besatzung in der Résistance gekämpft hat, als auch in den fünfziger Jahren in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, erzählt Anne Weber von ihrer Begegnung mit dieser Frau. Wunderbar an diesem Buch ist auch und besonders die Form: Es ist tatsächlich im epischen Versmaß geschrieben, doch nach 2-3 Seiten hat man die Verwunderung darüber vergessen und genießt nur noch die Schönheit und Leichtigkeit der Sprache.
Schauspieler Bernd Geiling empfiehlt eine mörderisch-gute Trilogie:
Der mörderische Hof Heinrichs des Achten aus der Sicht Thomas Cromwells, eines begnadeten politischen Aufsteigers und Intriganten.
Wie der Engländer sagt: »Unputdownable!«
Auch der Bücherstapel Christine Asts, Souffleuse, ist hoch:
Fabio Andina »Tage mit Felice«
Dieses Buch spielt in einem Bergdorf im Tessin, und alles dreht sich um den 92-jährigen Felice und dessen Anbindung an die Dorfgemeinschaft. Er wandert jeden Morgen zu einer Gumpe und springt ins kalte Wasser. Begleitet wird er eine Woche lang vom Autoren/literarischen Ich, der als Kind, in der Stadt aufgewachsen, die Ferien mit seinen Eltern in Felices Dorf zugebracht hatte. Als Schriftsteller zieht er sich nun in diese dörfliche Gemeinschaft zurück, ins ehemalige Ferienhaus seiner Eltern, und wird so zum Nachbarn von Felice.
Nachdem ich »Bouches les Rouges« gesehen habe, griff ich ein zweites Mal zu »Fräulein Nettes kurzer Sommer« von Karen Duv.
Ein entscheidender Sommer im Leben der Anette von Droste-Hülsoff – Autoren der Romantik (Brüder Grimm, Heinrich Heine) und literarisch- patriotische Studentenkreise bilden den Hintergrund zu einer Emanzipationsgeschichte, die in einen Skandal mündet.
»Das Leben der Elena Silber« von Alexander Osang
Ein Drei- Generationen-Roman: ich habe mich sehr vertraut gefühlt mit den lakonischen und schmerzhaften Auseinandersetzungen des literarischen Ichs mit seiner Mutter, seinem demenzkranken Vater. Und dann rollt er die Geschichte seiner Großmutter, seiner Mutter und seiner vier Tanten für ein Filmprojekt auf. Der Roman pendelt zunehmend zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Toll!
Gertrud Leutenegger, »Pomona« und »Späte Gäste«
Diese beiden Romane gehören zusammen, der erste 2004 erschienen, der zweite, die Fortsetzung, wurde 2020 herausgegeben.
Wir befinden uns im südöstlichsten Zipfel des Tessins, schon fast in Italien. Die Autorin erzählt ihrer Tochter das Leben ihrer Mutter (Großmutter), der eigenen Kindheit und schiefgelaufenen Ehe. Also quasi als Erklärung dafür, warum ihr Mann (Vater) im Dorf geblieben ist und sie mit ihrer Tochter in die Großstadt (Zürich?) gezogen/ geflohen ist. Im zweiten Band kommt sie zurück ins Dorf, da ihr Exmann gestorben ist. Es ist die poetische Schreibweise der Autorin, ihre Assoziationsketten, ihre fast haptische Beschreibung zweier Dörfer – ich konnte die Naturphänomene riechen, schmecken, spüren.
Sänger Algirdas Drevinskas verbindet mit einem Buch eine ganz besondere Zeit seines Lebens:
Das Buch von Alexandra Wild »Zu Mittag um zwölf war alles erledigt« (edition keiper, Graz 2020) habe von meinen damaligen Unterstützern während meiner Studien an der Kunst Universität Graz bekommen: noch eine traurige österreichisch-slovenische Familiengeschichte die bestätigt, dass die Menschen KEINE Kriege brauchen.
Es geht um die Jahrzehnte lange Suche des (Grabes) vermissten (ermordeten) Vaters am Ende des 2 Weltkrieges.
Schauspielerin Laura Trapp empfiehlt 105 intensive Seiten von Carolin Emcke:
»Was wäre, wenn?«, das frage ich mich oft. Und der Gedanke, im Jenseits gäbe es eine Bibliothek mit all den Leben, die ich hätte führen können, Buch für Buch, ist beängstigend und faszinierend zugleich. Matt Haig schickt seine Protagonistin Nora Seed auf eben genau diese Reise in seinem Roman »Die Mitternachtsbibliothek«.
In den Spielzeitferien geht es für viele von uns nach Hause. Aber was bedeutet das eigentlich, »Zuhause«? Ein Ort? Ein Mensch? Ein Hund? Was macht uns aus, wo gehören wir hin? »Über eine Sehnsucht und die vielleicht wichtigste Suche unseres Lebens« schreibt Daniel Schreiber in seinem essayistischen Roman:
Wir wünschen Ihnen einen schönen Lese-Sommer, viel Freude beim Entdecken neuer (literarischer) Welten. Vielleicht finden Sie ja in der einen oder anderen ein neues Zuhause.
Frederike Krüger, Dramaturgin für Musiktheater und Konzert
Das Theater feiert den Augenblick, die Gegenwart, das Da-Sein im Hier und Jetzt, aber damit auch das Vergängliche, das Vorrübergehende, das Transitorische. Nach der Premiere einer Inszenierung folgt eine Reihe von Aufführungen an unterschiedlichen Spiel-Tagen, in dem sich das Erschaffene weiterentwickeln kann, bzw. die Künstlerinnen und Künstler jenseits einer Premierenanspannung frei aufspielen und ihre Rollen weiterentwickeln. Theaterfans, die nicht nur eine Aufführung besuchen, berichten begeistert davon. Sie lieben die kleinen Veränderungen im Spiel und Timing des Abends. Oft sind es sogar winzige – meist vom Gro des Publikums unbemerkte – Fehler, Ausrutscher, Pannen die zum Darüber-Erzählen einladen. Veränderungen und Brüche gehören zum Leben und machen eine Inszenierung manchmal sogar besonders interessant. War der Einsatz der Souffleuse beabsichtig? Gehörte der Ausstieg aus der Rolle zum Spiel? War das beim letzten Vorstellungsbesuch auch so?
Menschliche Aufmerksamkeiten verschieben sich und so gilt für das Theater: Jede Vorstellung ist anders!
Diese kühne Behauptung in einem Medium, in dem sich alle Beteiligten auf und hinter der Bühne stets um die größtmögliche Exaktheit bemühen, entspringt dem Live-Charakter des Theaters und dem menschlichen Sein. Kein Tag ist wie der andere. Aber auch keine Stunde, Minute oder Sekunde. So wird nicht nur das gemeinsame, energetische Spiel auf der Bühne immer anders erlebt, sondern auch die Reaktionen im Zuschauer-Raum sind von Vorstellung zu Vorstellung verschieden. Doch erst das wechselseitige Erleben von Spieler*innen und Publikum macht aus einem Theater-Spiel Theater. Sollte dann auch noch der vielbeschworene energetische Funke überspringen, sprechen wir von Theater-Glück.
Doch wie Abschiede und Vergänglichkeit zum Leben gehören, so sagen auch die Theater zum Ende einer Spiel-Zeit: Tschüss! Wir nehmen Abschied von gemeinsam erarbeiteten Theaterabenden oder von Kolleginnen und Kollegen. Auf dem Spielplan heißt es nüchtern: Zum letzten Mal!
In Vorfreude auf das Kommenden will aber zeitgleich das neue Spielzeitheft Lust auf die kommende Saison mit ihren neuen Stoffen, Inszenierungen und Künstler*innen machen.
Die Vor-Proben u.a. zu »Gabriel«, »Der Besuch der alten Dame« oder »Augen ohne Gesicht« haben bereits begonnen!
Nutzen Sie vorher aber noch die Chance und nehmen Sie mit uns Abschied von zahlreichen gleichermaßen unterhaltsamen wie anregenden Inszenierungen der aktuellen Saison. Und das nicht nur im Schauspiel!
Als kleiner Trost – teilweise auch der Corona-Pandemie geschuldet – heißt es für einige Produktionen auch nur: Zum letzten Mal in dieser Spielzeit!
So oder so freue ich mich auf ein Wiedersehen in den Spielstätten des Staatstheaters.
Algirdas Drevinskas – 30 Jahre auf den Brettern, die die Welt bedeuten – Ein Porträt.
Für Algirdas Drevinskas sind – neben seiner Familie – das Theater und die Musik in der Tat die Welt. Sie bestimmen sein Leben. Seit 30 Jahren agiert der Tenor nunmehr auf den vielbeschworenen Bühnenbrettern. Man sieht es im Gespräch an seinen strahlenden Augen, wenn er sich an Partien erinnert, die er gesungen und von Begegnungen mit Regisseuren, Lehrern und dem Publikum berichtet, dass dieses Tenor-Herz für das Theater, für die Musik – besonders die von Mozart – schlägt.
Im kleinen Dramaturgiebüro sitzen wir im gebührenden Corona-Abstand einander gegenüber, zudem mit Atemschutzmasken versehen, und dennoch sprüht Algirdas geradezu und berichtet voller Leidenschaft. Dieses Bühnenleben erfüllt ihn auch nach dreißig Berufsjahren noch und macht ihm Spaß wie am ersten Tag, den er auf der Bühne stand.
Im litauischen Biržai fing alles an, dort erblickte er das Licht der Welt und die Liebe zur Musik wurde ihm geradezu in die Wiege gelegt. Voll liebevoller Erinnerung berichtet Algirdas von seiner Mutter, ihrer Gesangstimme, dem wunderschönen natürlichen Vibrato und warmen Timbre. Sie sang, als sie mit ihm schwanger war, in einem Frauenensemble, er glaubt, sie hat die ganze Zeit gesungen, und Algirdas ist sich sicher, dass seine Mutter ihm so die Liebe zum Gesang zusammen mit dem Leben geschenkt hat.
Schon im Kindergarten, alle anderen Kinder haben sich geniert, stellte sich der Bube hin und sang frei heraus. Eine Lehrerin der Kindermusikschule bot den Kindern der Grundschule, die sich gern musikalisch betätigen möchten, eine Aufnahme in die Musikschule an. Zu Hause eröffnete Algirdas seiner Mutter, dass er da unbedingt hin möchte.
Die Mutter brachte alles auf, um dem Jungen, der natürlich die Aufnahmeprüfung mit Bravour bestanden hatte, die Ausbildung zu ermöglichen. Schon als Kind hatte Algirdas immer wieder in Konzerten gesungen, war im Litauischen Fernsehen zu erleben und hatte an etlichen Wettbewerben teilgenommen. Er berichtet, dass Frauen Tränen in den Augen hatten, als sie ihn als Buben singen hörten. Für ihn war es aber das Normalste von der Welt, auf dem Konzertpodium zu stehen und zu singen und natürlich, er hat die Anerkennung auch sehr genossen.
Dann kam naturgemäß der Stimmbruch als eine Tragödie auf ihn zu, von seinem wunderschönen 1. Diskant war erst einmal nichts mehr übrig. Algirdas war dankbar für die erfüllten Jahre, war sich aber sicher, dass es das nun war mit dem Singen. Der Direktor der Musikschule hielt aber an dem Jungen fest, er bot ihm Dirigierstunden an und Algirdas durfte sogar den Chor der Kindermusikschule dirigieren und das Klavierspiel erlernen. Das war die wichtigste Vorbereitung für seinen weiteren Weg.
In Memel am Konservatorium hatte er dann die Aufnahmeprüfung für das Chordirigat gemacht. Jeder Chordirigent hatte freilich auch Gesangsunterricht. Algirdas erinnert sich: »Da war ein Gesangslehrer, ein ganz dicker Bariton, der sagte zu mir: >Junge, ich will dich nicht verwirren, aber du könntest singen.< Das hat mir gereicht, diese Bestätigung, dass dieser Profi dies zu mir sagte, und es so ernst meinte. Ich habe dann das Jahr noch zu Ende studiert und habe mich vorbereitet für die Aufnahmeprüfung für den Gesang.«
Manchmal denkt er »Mein Gott, ich kann nichts anderes als Singen«, aber genau das war immer sein Traum, seit er denken kann: Singen.
Natürlich gab es Höhen und Tiefen. »Jeder Sänger hat einmal in seinem Leben eine stimmliche Krise« meint Algirdas. Ein erster Schock war, als er während des Studiums plötzlich permanent furchtbaren Schleim im Hals hatte, es war mal besser, mal schlechter.
Jahre später, 2003 – er war bereits am Saarländischen Staatstheater engagiert – bereitete er die Partie des Belmonte vor. Seine von ihm sehr verehrte Studienleiterin Anne Champert freute sich bereits auf seine Interpretation: »Algis, ich freue mich schon sehr auf deinen wunderschönen Belmonte«.
Doch nach diesem Satz verschwand bei ihm die Stimme sukzessiv. Es wurde ein Gast als Ersatz geholt. »Ich konnte in der Sitzprobe nicht mehr singen, überhaupt nicht.« Nach einer Odyssee von vielen Arztbesuchen stellte sich heraus, dass eine Weizenallergie die Ursache für den Stimmverlust war.
Die Rückkehr nach neun Monaten auf die Bühne war für Algirdas wie die Neugeburt seiner Stimme. »Zum Glück hatte mein Intendant Kurt Josef Schildknecht Geduld. »Als er mich zu sich bat, dachte ich, das war es jetzt, aber er sagte: >Herr Drevinskas, jeder Sänger hat mal eine Krise, Sie haben jetzt Ihre, stehen Sie das durch, bleiben Sie tapfer.< Ich hätte ihm auf Knien danken mögen.«
Jungen Sänger*innen kann er nur raten, auch nach Allergien zu forschen. Auf meine Frage, was er weiterhin Gesangsstudent*innen mit auf den Weg geben möchte, war Algirdas das Wichtigste das Finden des passenden Gesangslehrers. »Bei einem Rubbellos kannst du eher einen Hauptgewinn finden, als bei der Gesangslehrerwahl den Richtigen. Im Nachhinein kann ich nur sagen, es ist einfach Glück, den Passenden zu finden. Sicher muss man wissen, was man will und muss auch selbst merken, ob es passt. Es gibt Lehrer, die loben dich vom ersten Tag an, aber damit kommst du meiner Meinung nicht weiter. Mein heißgeliebter Lehrer und >Vater<, Prof. Josef Loibl (bei ihm studierte Algirdas Drevinskas ab 1993 in Graz an der Kunst Universität Gesang) verlangte so viel und war so hartnäckig im positiven Sinne … «
Er erzählt die Geschichte, wie er zu ihm kam, die auch an ein kleines Wunder grenzt. Die Sowjetunion war gerade 1991 zusammengebrochen, er musste sein Visum nach Graz in Moskau beantragen, die Fahrtkosten auftreiben … Violeta Urmanavičiūtė war es, die ihm half. »Ich habe immer in meinem Leben Menschen getroffen, die plötzlich da waren, als ich schwach war und jemanden brauchte. Ich vertraue dem Universum, dass im wichtigen Moment jemand da ist, der hilft, wie mein Prof. Loibl, der mir den musikalischen Himmel geöffnet hat … Wenn man so einen Lehrer findet, dann muss man dem treu bleiben. Es kann auch sein, dass man auf ein falsches Pferd setzt, das ist dann eine Tragödie, ich hatte großes Glück. Er war für mich Professor, Vater, Mentor, alles in einem … Überhaupt, ich bin eine so treue Maus. Ich bin dem Saarland treu, weil ich vom ersten Tag an spürte, dass das hier ein tolles Haus ist, es gibt eine wunderbare herzliche Atmosphäre und das war hier immer so. Man kann sich hier entwickeln.«
Nicht nur in Pascals Dusapins Oper »Macbeth Underworld«, in der Algirdas Drevinskas zur Zeit als Porter auf der Bühne steht, zeigt der Tenor eine ungeheure Wandlungsfähigkeit, Spielfreude und Mut zur Skurrilität.
Algirdas gibt zu, dass da eine gewisse Portion Naturtalent dabei ist, lobt aber die unglaublich gute Ausbildung auch im schauspielerischen Bereich in Litauen vor allem im Vergleich zu der, die er in Österreich bekam. »Ich bekam ein gutes Instrumentarium in meinen Koffer … Bei einem Sänger muss auch Schauspiel dabei sein. Wir sind quasi singende Schauspieler. In Italien, in Florenz, war ich in der Oper und war so enttäuscht. Alle Sänger gingen mit ihrem hohen Ton einfach so an die Rampe und dann wieder weg in die Bühne. Ich dachte, ich glaube nicht, was ich da sehe, aus der Rolle in den Ton und dann wieder zurück.«
Eines seiner schönsten Erlebnisse in Saarbrücken und überhaupt war unter der Intendanz von Dagmar Schlingmann, sie war ja auch Schauspielregisseurin. Sie hatte einen »Barbier« herausgebracht, der acht Jahre lief. »Ich war der Almaviva, ursprünglich mit meiner Frau Elizabeth (Wiles) und die Produktion war wie für uns zugeschnitten. Wir hatten so einen Erfolg, und die Produktion lief und lief.«
Einen ähnlichen Erfolg hatte der Sänger, als er – wieder gemeinsam mit Elizabeth Wiles – in der »Zauberflöte« über viele Jahre als Tamino auf der Bühne des Saarländischen Staatstheaters stand. Zehn Jahre stand diese Produktion auf dem Spielplan.
Und die gemeinsamen Kinder, wollen die in die Fußstapfen ihres Vaters treten? »Unsere Kinder Julius und Clara besuchen fast jede Inszenierung. Sie waren selbst in so einer nicht ganz einfachen Produktion wie >Der Sturm< und wollten die Oper wieder und wieder sehen. Sie kamen in die Premiere und kamen noch dreimal. Das macht mir Hoffnung, dass sie auf jeden Fall auch als Erwachsene theaterbegeistert sein werden, auch wenn sie dann vielleicht nicht den Beruf ergreifen wollen. Für mich ist dies das Wichtigste. Ich finde, nur die Kunst rettet die Welt und Gesang sowieso und die Musik allgemein.«
Wenn Algirdas Drevinskas in Dusapins »Macbeth Underworld« als Porter auf der Bühne steht, wird das seine 104. Rolle sein. Als er in der Probe auf der Bühne in der Röhre über den Tiefen der Unterwelt stand, sprich über dem heruntergefahrenen Hubpodest, wurde mir allein vom Zuschauen schwindelig.
Algis als ehemaliger Flieger und Fallschirmspringer aber ist schwindelfrei, er weigerte sich zunächst, sich absichern zu lassen, er fand es wirksamer, so freistehend vor dem Abgrund zu sein. Natürlich kam er damit nicht durch. Auf jeden Fall ist der Porter eine Rolle, die er mit Begeisterung mitkreiert hat. »Weißt du«, sagt er mir, »eigentlich ist das die schönste Partie. Hast du das mitgekriegt?«
»Wenn man fest am Haus ist, bekommt man kleine, große, lustige, ernste Rollen, alles mögliche und eigentlich habe ich jede Richtung gern genommen. 103 Partien auf der Bühne ist eine Bagage, die habe ich gemacht und das ist eine Lebensleistung. Manche singen, wenn sie Glück haben, nur fünf oder zehn Jahre. Ich singe nun schon 30 Jahre.« Und er zitiert seinen Lehrer: »Wissen Sie Algis, mit der Natur singt man bis 35, dann braucht man schon die Technik.«
Algirdas zeigt mir voll Stolz als Zeitdokument die Titelseite eines Klavierauszuges von »Die Fledermaus«. Alle seine Freunde hatten anlässlich seines ersten Schrittes auf der professionellen Bühne am 9. 5.1991 eine Widmung darauf geschrieben.
Was ihn in seinem Beruf fit hält, sind die Natur und auch der Sport. In der Zeit der Stimmkrise hatte er das Joggen für sich entdeckt. »Ich habe gemerkt, wenn man irgendwelche Probleme hat, beim Joggen kommt alles raus, man verarbeitet seine Probleme. Es ist für mich wie eine seelische Reinigung.«
Auf meine Frage nach einer Partie, die noch auf seiner Wunschliste steht, kam als Antwort: »Ich nehme alles dankbar an, was kommt. Hauptsache, ich stehe auf der Bühne.« Und völlig frei von Neid folgte: »Leider Gottes sind zwei der besten Ensemblemitglieder im neuen Ensemble hier gerade die Tenöre. Ich schätze Angelos sehr und ich liebe geradezu Sung min Song. Ich habe viel gehört, glaube mir, aber so eine göttliche Tenorstimme habe ich wirklich noch nie gehört. Er ist der einzige, bei dem ich mich, wenn ich ihn höre, entspanne. Sonst analysiert man immer. Ich kann gar nicht böse sein, dass er irgendeine Partie, die ich wollte, bekommt.«
Aber von allen Partien haben es Algirdas die von Mozart am meisten angetan. Als er auf Mozart zu sprechen kommt, leuchten seine Augen noch mehr. »Mozart ist für mich das Genie Nummer Eins der Musikwelt. Ich denke, der hatte einen Draht zu Gott. Vielleicht wusste er es selber nicht. Du kannst diese Genialität nicht erklären. Alles passt. Wenn ich an Mozart denke, bekomme ich Gänsehaut. Und auch, wenn man nicht gläubig ist, in dem Moment, wo man Mozart hört, wird man es … Mein Professor sagte: >Algis, wer Mozart singen kann, kann alles singen.<
Warum? Du kannst den Mozart nicht plärren, du musst dich konzentrieren, die Linie führen, die Tessitur halten. Das gibt es quasi kaum bei anderen, das, was Mozart verlangt. Der war genial, seine Musik ist genial, seine Musik verlangt von einem Sänger Kongenialität, wenn du das anständig machen willst.
Mein Ziel ist es, kultiviert, diszipliniert, schön, mit Seele und mit Herz zu singen – Schauspiel noch dazu. Die Rolle des Basilio verfolgt mich, ich habe schon fünfmal Basilio gemacht, jedes Mal anders. Der letzte hier (Inszenierung: Eva Maria Höckmayr) war ganz besonders.
Die Regisseure sehen meine Freude, zu spielen – lustlos, das gibt’s bei mir nicht – und sie denken, das muss ich nutzen. Auch beim Porter in »Macbeth Underworld«, da gab es am Anfang bei mir Skepsis, was will der Fioroni (Regisseur »Macbeth Underworld«), ich sagte erst einmal nichts, dann schlief ich darüber und ich dachte nach, warum liest er die Rolle so, was will er damit? Dann – natürlich! So meint er das und das ist dann noch stärker und ich merkte, das ist genial. Spielfreude habe ich genug, ich muss nur aufpassen, dass es nicht zu viel wird. So gehe ich durch die Bühne seit 30 Jahren, die Freude ist immer noch da, das Glück ist auch auf meiner Seite. Was ich mir wünsche? Ich wünsche mir noch schöne Fachpartien in den nächsten Jahren.«
Der mühsame Weg eine grenzüberschreitende Theaterproduktion in Zeiten von Corona zu einem Abschluss zu bringen.
Am Anfang stand die Idee einer grenzüberschreitenden Produktion zwischen den Theatern Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Saarländischen Staatstheater. Und da Theatermacher auch immer auf der Suche nach Talenten sind, wollten wir der jungen luxemburgischen Autorin Mandy Thiery, in dem man ihr einen Schreibauftrag gab, die Möglichkeit eröffnen, den Theateralltag besser kennen zu lernen.
Im einem gemeinsamen Probenprozess sollte ein neues Stück mit dem Arbeitstitel »Das Fenster« und den Themen Grenzerfahrungen bzw. Ängste und Nöte der jungen Generation entstehen. Im Herbst 2020 dachten wir, könnte das Projekt in Workshops und Lesungen an beiden Theatern schon mal vorgestellt werden und die Proben dann am 2. Dezember 2020 in Saarbrücken beginnen.
Nach einer Reihe von Voraufführungen in der sparte4 sollte die Uraufführung am Freitag, den 26. Februar 2021 in Luxemburg sein. So wurde es im Spielzeitheft in Luxemburg angekündigt und auf einem Besetzungszettel in Saarbrücken verkündet. So weit der Plan.
Doch dann kam alles anders. Zweiter Lockdown! Die Theater wurden im November erneut geschlossen und der Grenzverkehr zum Problem. Was tun? Wir durften zwar noch probieren, doch in der geplanten Produktion sollten je zwei Schauspieler*innen aus Luxemburg (Jil Devresse und Timo Wagner) und Saarbrücken (Christiane Motter und Thorsten Rodenberg) spielen.
Außerdem war die Autorin Mandy Thiery geladen, das Stück mit dem Team um Regisseur Thorsten Köhler auf den Proben zu entwickeln? Wie sollte das funktionieren, wenn die Kollegen*innen aus Luxemburg nach den neusten Corona-Schutzverordnungen sich nicht länger als 48 Stunden in Deutschland aufhalten durften?
Und überhaupt, welche Verordnung galt gerade in welchem Teil Europas? Sollte man die Koproduktion nicht absagen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Aber was dann?
Allein die Disposition eines großen Theaters ist äußert kompliziert, wie soll da eine kurzfristige Verschiebung mit zwei so unterschiedlichen Häusern wie den Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Saarländischen Staatstheater funktionieren? Und was sollte aus den abgeschlossenen Verträgen werden?
Denn neben den Schauspieler*innen gehören der Bühnen- und Kostümbildner Justus Saretz, der Videokünstler Grigory Shklyar und der Musiker Achim Schneider, die alle auch in anderen Verträgen gebunden sind, zum künstlerischen Team.
So hielt man an der Produktion fest und die Proben begannen mit täglich zwischen Luxemburg und Saarbrücken pendelnden Künstlern, die fast länger im Bus oder Auto sitzen mussten, als auf der Probe sein zu können. Doch langsam aber stetig entwickelte sich das Stück von Szene zu Szene und der Regisseur Thorsten Köhler wurde mehr und mehr zum Ko-Autor neben der jungen Autorin Mandy Thiery.
Doch weil sich die Corona-Zahlen nicht wirklich besserten und man nicht absehen konnte und leider auch immer noch nicht kann, wann das Saarländischen Staatstheater wieder spielt, verordnete – auch auf Bitten des Betriebsrates – die Theaterleitung einen Probenstopp rund um Weihnachten und Neujahr.
Die Probenzeit für die Produktion »Das Fenster« wurde langsam knapp und eine Premiere im Januar immer unrealistischer. Zumal in Deutschland weiterhin ein Spielverbot bestand, während die Theater in Luxemburg längst wieder geöffnet hatten. So musste man die Proben im Januar 2021 erst einmal beenden, in Kurzarbeit gehen und neue Zeitfenster für die Endproben und Vorstellungstermine in Saarbrücken und Luxemburg suchen.
Nach vielen Gesprächen und neuen Planungen für beide Theater entschlossen wir uns, die Proben schließlich am 19. März wiederaufzunehmen, in der Hoffnung Ostersamstag endlich eine Premiere in Saarbrücken feiern zu können. Leider wird es auch zu diesem Uraufführungstermin nach den neusten Entwicklungen nicht kommen und so gehen die Planungen für neue Öffnungsszenarien weiter.
»Ja; mach nur einen Plan sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch´nen zweiten Plan Gehn tun sie beide nicht.« (Bertolt Brecht)
Doch mittlerweile ist der letzte Video-Dreh geschafft, das Stück vollendet und mit dem Untertitel »Eine Schauergeschichte für die letzten Generationen« versehen. Denn entstandenen ist eine Art Trash-Grusical mit viel Musik und nach Motiven aus »Peter Pan« von James Matthew Barries oder Horrorfilmen wie »Spuk im Hill House« nach dem gleichnamigen Roman von Shirley Jackson.
Anspielungsreich und lustvoll mit den Klischees und Phänomenen einer YouTube-, Instagram- und TikTok-Generation spielend, verweisen Stück und Inszenierung auf apokalyptische Vorstellungen und immer größer werdende Ängste vor einem gefährlichen und lebensbedrohlichem Draußen. Aber beginnt nicht erst jenseits der eigenen vier Wände und den ängstlich gezogenen Grenzen das aufregende Leben mit all seinen Abenteuern und spannenden Geschichten?