In diesem Duett (oder Duell), das mit Sprache, Schweigen und allen verfügbaren Registern der Dramatik liebäugelt, erspielt sich der Spieler seine Lebenszeit, setzt sich mit dem Tod auf schier unerschöpfliche und humorvolle Weise auseinander; sie ringen miteinander, trösten und missverstehen sich wie zwei Vertraute. Leben und Tod – hinunter gebrochen auf die Theatersituation. Und wir, das Publikum, sind mit gemeint, tanzen den Totentanz mit. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit dem Autor Björn SC Deigner – über Kunst, das Politische und den Tod.
Bettina Schuster-Gäb: Was macht einen guten Stoff aus?
Björn SCDeigner: Das ist eine große Frage. Ich kann sie auch insofern schlecht beantworten, weil meine Stücke sehr verschieden sind. Vielleicht so: ich glaube an das Politische im Schreiben. Ich glaube an die Musikalität von Sprache, an die verführerische Abgründigkeit von Figuren auf der Bühne und das politische Moment, wenn sich Menschen zu einer Gruppe versammeln, die sich Publikum nennt. Und bei »Spieler und Tod« war es auch die Lust am Spiel. Das Vertrauen darauf, dass ein großes Thema ganz klein angepackt werden kann. Dass uns zwei Schauspieler auf der Bühne dazu verführen können, doch einem Schrecken in den Schlund zu schauen, auch wenn man herzlich gelacht hat dabei. Ich glaube mittlerweile, dass man als Kunstschaffender es auf eine gewisse Weise nicht vermag, mit der Welt in einen Gleichklang zu kommen – irgendetwas fehlt immer oder ist gerade zu viel. Das interessiert mich an der Welt: das Unversöhnliche zu versöhnen und das Versöhnte wieder zu bezweifeln.
B. S.-G.: Der Tod – ein großes Thema. Wie und warum hast du dich ihm angenähert?
B.D.: Jeder Mensch, der sich mit Kunst beschäftigt, hat es mit dem Tod zu tun. Als Sujet eines Bildes wie bei Dürer; oder als auslösender Konflikt eines Stückes bei Schiller oder Shakespeare zum Beispiel. Wenn man durch die Künste geht, bemerkt man, wie präsent der Tod als Topos immer war – auch unabhängig von kirchlicher Prägung. Insofern ist es vielleicht eher fraglich, wie wenig der Tod, auch im gesellschaftlichen Miteinander, vorkommt (auch wenn es sich durch die Pandemie gerade anders gestaltet). Das professionalisierte Abschieben des Vorganges des Sterbens in Institutionen wie Hospize oder Altersheime wurde durch die Corona-Krise aufgerissen; ich denke aber, durch die systemischen Stellschrauben, die unser Zusammenleben fixieren, wird auch das bald wieder vergessen sein. Wir leben – noch – unter dem Leitsatz von Wachstum, Erweitern und Vergrößern. Da hat Verlust, Scheitern, Tod wenig Platz. Das war die Hintergrundstrahlung für die Idee, ein Stück über den und mit dem Tod zu schreiben. Um dann leicht zu werden: ein Abend, an dem wir dem Tod ins Gesicht lachen. Dass er uns trotzdem einholt, dass wissen wir ja ohnehin…
B. S.-G.: Ist der Spieler ein guter Mensch?
B.D.: Was ist ein guter Mensch – oder noch schlimmer: was gar ein schlechter? Ich glaube, die Literatur ist ein Ort, wo alle Menschen gebraucht werden. Wir wollen sie dann lieben oder hassen, leiden mit ihnen oder wir lehnen sie ab. Aber wir verhalten uns doch zu ihnen. Ob sie dafür gute oder schlechte Menschen sind, ist beinahe zweitrangig, es zählt eher der Graubereich dazwischen. Eine gute Figur wäre der »Spieler«, wenn sie es schaffen würde, dass wir uns von ihr abgrenzen, darum über sie lächeln, zugleich aber wieder zu ihr finden dürfen und plötzlich getroffen sind davon, wie auch diese Figur verzweifelt sein kann, kindlich, voller Angst. Dann wäre vielleicht der »Spieler« nicht unbedingt ein guter Mensch, aber immerhin eine gute Figur.
B. S.-G.:Und die Figur des Todes?
B.D.: Der Tod, so wie er in meinem Stück vorkommt, hat mich aus zwei Gründen sehr gereizt: zum einen ist er ein recht schweigsamer Spielpartner. Das ist szenisch interessant, weil in jeder Szene ein grundsätzliches Missverhältnis zwischen den beiden Figuren besteht, zumal der »Spieler« sehr viel spricht. Dieses Missverhältnis ist grundlegende Bedingung für Humor, glaube ich. Und zugleich bildet es eine Grundspannung, mit der jede Szene umgehen kann. Zum anderen ist der Tod – auch auf unserer Bühne – immer nur eine kulturelle Repräsentation. Was könnte mehr Theater sein! Der Tod ist immer schon inszeniert und hat sich – oder wurde – über die Jahrtausende immer anders in Szene gesetzt. Das war mir wichtig für die Figur des Todes, die älter als das Christentum ist: sie fragt nicht nach Schuld, sie erlöst nicht, sie kann auch nicht drohen. Sie kommt einfach und macht keinen Unterschied.
B. S.-G.:Wie weltlich ist also der Tod?
B.D.: Das Nicht-Einverstanden-Sein mit der Welt, weil ein Mensch gehen musste, den man bei sich haben wollte: das ist eine Erfahrung, die vermutlich jeder Mensch schon einmal machen musste, oder die einem unweigerlich noch bevorsteht. Ich glaube, dass darin ganz fundamental eine politische Kraft liegt. Die Verhältnisse, wie sie scheinen, nicht zu akzeptieren, ist auch ein politisches Potential. Im alltäglichen Leben geht ein Bewusstsein dafür, dass Welt auch ganz anders sein könnte, ja immer verloren. Einschnitte wie der Tod, die in ihrer Andersartigkeit keine Rücksicht nehmen (ob es uns gerade passt zum Beispiel), zeigen uns auf, dass wir konfrontiert werden mit Welt und uns darin entweder abfinden müssen oder aufbegehren dagegen. Das empfinde ich sehr politisch. Abseits davon ist vor allem das Sterben politisch und zwar ganz profan: wer kann es sich leisten, wie zu sterben? Bei den Liebsten zuhause, mit einer privaten Pflegekraft – oder im Mehrzimmerbett, verpflegt und gesäubert durch wechselnde Schichten überarbeiteter Pflegekräfte.
Der Tod selbst – zumindest wir er uns im Stück erscheint –, macht keine Unterschiede. Und darin ist er wohl seltsam unpolitisch. Und das kann man ihm neiden: Menschen brauchen schließlich Politik, um sich über Fragen einig zu werden, auf die es kaum eine Antwort gibt. Der Tod scheint von diesen Fragen unberührt.
Björn SC Deigner, geboren 1983 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Deigner ist Autor für Theater und Hörspiel, sowie Sounddesigner und Komponist an verschiedenen deutschen Stadttheatern (u. a. Thalia Theater Hamburg). Seine Texte wurden eingeladen zu den Autorentheatertagen 2018 am Deutschen Theater Berlin sowie 2019 zum Heidelberger Stückemarkt.
Das Interview führte Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin mit Sonderprojekt Festivalleitung und Programmdramaturgie »Festival Primeurs« & »Primeurs PLUS«
125 Jahre Alte Feuerwache – 40 Jahre Spielstätte Alte Feuerwache
… mit einem Gastspiel der Theaterakademie München »Noch ist nicht aller Tage Abend«, der Premiere »Der Weg zurück«, dem Start einer Diskussionsreihe zum Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT! und im Sommer mit einem Theaterbrunch auf dem Landwehrplatz.
Anno 1897 wurde die Alte Feuerwahr nach Plänen des Architekten Wilhelm Franz als Städtische Turnhalle des Turnerbundes St. Johann sowie als Feuerwehrhaus im Erdgeschoss fertiggestellt. Nach Neugestaltung der Innenräume durch den Architekten Lu Kas entstand dann 1982 aus der Turnhalle die zweite Spielstätte des Saarländischen Staatstheaters. Mit der Kabarett-Revue »Von Kopf bis Fuss auf Deutschland eingestellt… « zusammengestellt von Herbert Hauck, Jürgen Kirchhoff und Gottfried Stramm wurde sie am 16. Januar 1982 als Raumbühne mit einer variablen Bestuhlung von maximal 240 Zuschauerplätzen eröffnet und zur künstlerischen Heimat des Sprechtheaters.
»Der Umbau der Feuerwache zur kulturellen Nutzung ist ein Versuch Schwellenängste abzubauen und einem eingefahrenen Kulturbetrieb neu Impulse zu geben, um damit das kulturelle Leben unserer Stadt reicher zu machen«. (Aus der Neujahrsansprache des damaligen Oberbürgermeister Oskar Lafontaine)
Der damalige Schauspieldirektor Lothar Trautmann verstand die neue Spielstätte als »Freiraum künstlerischer Phantasien« und als eine Einladung »in Sachen ‚Theater‘ auf Entdeckungsreise zu gehen“.
Diese Einladung gilt bis heute! So ist auch unter dem Intendanten Bodo Busse und der Schauspieldirektorin Bettina Bruinier die Alte Feuerwache ein Ort der unterschiedlichsten Theater-Erlebnisse aller Sparten des Saarländischen Staatstheaters, aber auch der Festivals LOOSTIK, PRIMEURS, PERSPECTIVES oder dem TANZFESTIVAL SAAR.
Schon im ersten Jahr der neuen Intendanz wurde die Alte Feuerwache beispielsweise in einen Werbe-Lichtkasten (LICHT IM KASTEN), in ein Live-Hörspiel-Studio (WINNETOU), in eine Raumstation (SOLARIS), in ein Wasserbecken (IPHIGENIE) oder in ein Schlachtfeld (DAS WUNDER UM VERDUN) verwandelt. Es folgten Rauminstallationen u.a. für DAS ACHTE LEBEN (FÜR BRILKA) von Nino Haratischwili, der Uraufführung WERWOLF von Rebekka Kricheldorf oder GAME OVER, eine Open-World-Simulation von Prinzip Gonzo.
So blieb die Alte Feuerwache bis heute ein »Freiraum künstlerischer Phantasien« für Ausstattung und Regie, wenn auch die alte Zuschauer-Tribühne in die Jahre gekommen und leider nicht mehr variable ist. Eine Erneuerung steht dringend an!
In dieser und in der vorhergehenden Spielzeit brachte allerdings die Corona-Pandemie auch den Spielplan der Alten Feuerwache tüchtig durcheinander. Immer wieder mussten neue Wege des Spielens und Erzählens gefunden und auf die jeweiligen Vorgaben des Arbeits- und Infektionsschutzes reagiert werden. Doch Dank Impfungen und Testungen müssen auf der Bühne wenigstens die einschränkenden Abstandsregeln nicht mehr eingehalten werden.
Mit Beginn des neuen Jahres und unter Berücksichtigung der 2G+ Regeln freuen wir uns, endlich auch den regulären ABO-Spielbetrieb wieder aufnehmen und allen Theaterfans einen abwechslungsriechen Spielplan anbieten zu können.
So stehen im Schauspiel nicht nur die Produktionen »Puck träumt eine Sommernacht« – eine Stückentwicklung von Alice Buddeberg und Ensemble nach William Shakespeares Komödie »Ein Sommernachtstraum«, das Lustspiel »Trüffel Trüffel Trüffel« von Eugène Labiche in einer Inszenierung von Julia Prechsl und das Schauspiel »Gabriel« von George Sand als deutsche Erstaufführung in der Regie von Sébastien Jacobi, sondern auch die Wiederaufnahme und Neueinrichtung Bettina Bruiniers Inszenierung »Weh dem, der aus der Reihe tanzt. Sulzbach« nach dem Roman von Ludwig Harig und die erste Premiere im neuen Jahr »Der Weg zurück« des Engländers Dennis Kelly in der Regie von Christoph Mehler auf dem Programm.
Außerdem kann man am 6. Januar das Gastspiel der Münchner Theaterakademie August Everding »Noch ist nicht aller Tage Abend – Eine Vision in vier Bildern nach Werner Schwabs ‚Volksvernichtung‘ mit Texten von Nietzsche, Lem und einer künstlichen Intelligenz« der Regieabsolventin Malena Große erleben.
So wollen wir auch einer ganz jungen aber schon mit einem Preis für die beste Regie ausgezeichneten Regiehandschrift einen Raum geben und Sie einladen, sich auf das Spiel um die Frage: Wie verändert sich das Menschenbild in einer digitalisierten Welt? einzulassen.
Denn die Alte Feuerwache ist nicht nur eine wunderbare Raumbühne und zweite Spielstätte des Saarländischen Staatstheaters, sondern seit ihrer Eröffnung auch immer wieder eine Begegnungsstätte mit zahlreichen Sonderformaten wie Einführungen, Lesungen oder Gesprächen rund um das Theater. Und seit der Eröffnung des Weinbistro Hauck im Jahr 2011 hat die Alte Feuerwache auch einen geselligen Treffpunkt nicht nur vor und nach den Vorstellungen bekommen. Siehe auch www.hauck-weinbistro.de
Am 6. Februar starten wir dann mit einer Diskussionsreihe zu unserem aktuellen Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT! Unter dem Motto IN ZUKUNFT KUNST! sprechen wir mit der neuen Kulturdezernentin der Stadt Saarbrücken Dr. Sabine Dengel und der Leiterin der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz Dr. Andrea Jahn über Kunst und Kultur in der Stadtgesellschaft. Wie sieht heute – nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie – gesellschaftliches Leben in Saarbrücken und Deutschland aus? Wo findet es (noch) statt? Wer bestimmt den Diskurs und welche Bedeutung können dabei Kunst und Kultur spielen?
Aber was wäre ein Jubiläum ohne Fest? Und so laden wir Sie zum Abschluss der Spielzeit zu einem geselligen Brunch mit künstlerischen Beiträgen auf dem Landwehrplatz vor der Alten Feuerwache im Rahmen des Kulturmeilenfestes 2022 ein.
Die Inszenierung von Gustav Rueb berücksichtig 10 Spieler*innen, die aktiv als Expert*innen am Prozess der Inszenierung beteiligt wurden. Den Bürger*innen Saarbrückens soll durch das ensemble4 eine Stimme gegeben werden. Maria Siener ist eine davon.
»Ich wünsche mir für unsere Stadt mehr Barrierefreiheit«
Maria Siener brennt für Theater und Musik. Sie liebt es sich kulturell berieseln zu lassen genau so wie selbst Kultur zu schaffen. Im Theaterverein bastelt sie an Theaterstücken und steht auf der Bühne. Mit ihrer Gitarre und ihrer Stimme kehrt sie »ihr Innerstes nach außen«. Mit der gleichen Leidenschaft übt sie ihren Beruf aus: Das Unterrichten. Maria ist Lehramtsanwärterin für Förderschulen. Mit Schüler*innen zu musizieren und theaterpädagogisch zu arbeiten hat für sie einen hohen Stellenwert und einen besonderen Reiz.
Maria ist Teil des Bürger*innenensembles »ensemble4« und bereichert die Gruppe nicht zum ersten Mal. Sie war beispielsweise bereits in »Hexenjagd« zu sehen und bereichert die Expert*innengruppe vor allem durch ihr theaterpädagogisches Verständnis von Theater und ihren feinfühligen Sinn für Gruppenkonstellationen. Marias Engagement für kulturelle Vermittlung ist ein wichtiger Baustein des ensemble4. Sie ist ein Beispiel für eine wirklich aktive Zuschauerin des Saarländischen Staatstheaters und trägt ihre Begeisterung weiter.
Bei der Frage nach ihrem Engagement für Saarbrücken und ihr Verhältnis zu ihrer Heimatstadt, antwortete sie:
»Ich wünsche mir grundsätzlich mehr Barrierefreiheit auf der ganzen Welt für alle Menschen, die mit Barrieren zu kämpfen haben. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist das Recht eines jeden Menschen, wir alle sind gleichwertig, unabhängig von äußeren Merkmalen oder auferlegten Etiketten. Doch erst wenn die Rahmenbedingungen passen, kann Teilhabe gewährleistet sein. Ein Mensch wird auch behindert durch beispielsweise fehlende barrierefreie Toiletten oder durch Stufen vor Apotheken und Geschäften ohne Rampe oder Aufzug, die es Menschen mit Rollstuhl unmöglich machen, diese Geschäfte zu betreten. Mittlerweile gibt es, der Digitalisierung sei Dank, viele Hilfsmittel wie bspw. die App „Wheelmap“, eine digitale Stadtkarte, anhand derer man direkt erkennen kann, welche Örtlichkeiten für Rollstuhlfahrer barrierefrei sind. Aber auch Städte und Kommunen können aktiv werden. Da Saarbrücken (bzw. der Regionalverband) seit Sommer 2021 meine Wahlheimat ist, wünsche ich mir als Bürgerin von ganzem Herzen zu dem Thema Barrierefreiheit mehr Engagement und Aktivität. Inspiration liefern Städte wie Marburg, genauer das Marburger Stadttheater, in dem Menschen mit Sehbeeinträchtigung auf Audio-Inhaltsbeschreibungen einzelner Stücke zurückgreifen können, um stumme, rein optisch dargestellte Inhalte überhaupt erfassen zu können.
Am meisten am Saarland schätze ich, dass man hier schnell überall ist. Mein Lieblingsspaziergang geht um den Itzenplitzer Weiher. Den besten veganen Burger finde ich in St. Wendel. Und Saarbrücken selbst bietet mir alles was ich als Kleinstadtmensch (Zweibrücken) schon immer vermisst habe«
Über eine grundsätzliche Infragestellung binärer Welten im Stück GABRIEL von George Sand
B.S.-G.: Sébastien Jacobi, was ist das Besondere an George Sand, an ihrem Universum?
S.J.: George Sand deckt mit ihrem biographischen Hintergrund und erzählerischen Ausrichtung ein ganzes Jahrhundert ab. Im Stile des 19. Jahrhunderts ist sie philosophische Autorin und mit ihren Erzählungen zugleich eine Sozial-Reformistin. Das ergibt ein ganz eigenes Universum.
B.S.-G.:Was ist das für eine Zeit?
S.J.: Das ist eine Zeit, in der das Individuum, der individuelle Blick populär wird. Dennoch ist er angebunden an ein gesellschaftliches Gesamtgefüge. Ich persönlich habe ein ausgesprochenes Faible für diese Literatur. Bei den großen Autor*innen wie Sand, Proust, Balzac, Dostojewski, Hugo wird das Leben als Roman betrachtet und ist gesellschaftlich relevant auch im Profanen. Auch George Sand spült gewisse Perspektiven einmal durch das Individuum hindurch und erhält sehr subjektive Betrachtungen von Welt, die wiederum auf das Große-Ganze zurückwirken. Ihr geht es nicht um Bebilderung von Zuständen, sondern um den Menschen in seiner sozialen Dimension und seinen sozialen Forderungen.
B.S.-G.:Wenn du von der menschlichen Autorin sprichst, meinst du damit, dass sie individualistisch strebende Menschen beschreibt oder eher einer Art soziale Ausrichtung ihrer Stoffe?
S.J.: Letzteres, genau. Sie beobachtet hart, beschreibend, arbeitet autobiographisch, aber bleibt fiktiv, und fordert reelle gesellschaftliche Veränderungen ein. In GABRIEL ist es ein veränderter Status der Frau. Oder fast noch mehr die gänzliche Abschaffung der geschlechtlichen Kategorie, mit der sie sehr viel Ungleichheit verband. Nie sind ihre Geschichten privat, immer von gesamtgesellschaftlichem Belang.
B.S.-G.:Wie tut sie das?
S.J.: Über eine Art Ideendrama mit philosophischer Argumentation, die man sich als Publikum aber ganz psychologisch und emotional vorstellen muss. Und das ist sehr modern! Es gibt Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Textflächendramen, aber wiederum auch zu shakespearesker Komik oder auch Blutrünstigkeit. Auch eine Tarantino-Note sehe ich in ihr – sie liebt das absurd Dramatische, Mantel-Degen-Geschichten, das Aufs-Ganze-Gehen. Darin ist sie höchst realistisch und filmisch.
B.S.-G.:Du hast nun nicht das gesamte 200-seitige Drama auf die Bühne gebracht, sondern hast dich als Regisseur fokussiert: auf das Dramatische, das Vorantreibende, auf die Grundideen. Welches sind das?
S.J.: Was ich verschlankt habe, um stärker vom Heute zu erzählen, ist ein gewisses gesellschaftliches Machtgefüge, ein religiöses Machttableau. Das Herrschaftsgefüge, benannt mit dem alten Prinzen Jules, fand ich hingegen als Grundaufstellung sehr hilfreich, um den Sprung in die Gegenwart zu schaffen: die Distanz zu einer märchenhaften Handlung mit Schloss und Adel lässt sich ohne Weiteres auch auf den Abgesang des weißen alten Mannes lesen. Ich habe mich in meiner Fassung auf die Entwicklung von Gabriel konzentriert; auf seinen/ihren Bewusstseinsprozess und Anspruch auf Selbst- statt Fremdbestimmung. Sand nannte das »Freiheit«.
B.S.-G.:Macht es einen Unterschied im Übersetzen, wenn du weißt, was du auf der Bühne erzählen willst?
S.J.: Ich mache Regie aus dem Gefühl oder den Erfahrungen eines Schauspielers heraus, gehe sehr von der Logik des Spielers aus – wie ich zu einer Form, zu einer Aussage komme. Ähnlich gehe ich auch die Übersetzung an: Ich habe versucht die Sprache zu erhalten, mich bewusst gegen eine Modernisierung der Sprache entschieden, die Höflichkeitsform »Ihr/Euch« ist zudem genderneutral. Mein Anspruch war stets eine Gesamtübersetzung zu denken – genutzt habe ich die Übersetzungsarbeit am gesamten Stück letztlich, um zu einer Fassung zu gelangen, einen Ausschnitt zu wählen. Was interessiert mich konkret für ein szenisches Erzählen? Welche Situationen, Dialoge und Konflikte sehe ich mit welcher Personnage erzählt? Welche Figuren brauche ich? Wie rhythmisiere ich den Text für ein szenisches Geschehen?
B.S.-G.: Dient die Inszenierung der Sprache oder die Sprache der Inszenierung?
S.J.: Beides. Die »alte«, vielleicht fremdartig formulierende Sprache ist mir ein wichtiges inszenatorisches Mittel: Über Sprache eine gewisse Distanzhaltung beim Publikum zu erzeugen, erleichtert die Draufsicht und schafft Bereitschaft sich der Aktualität auszusetzen. Einen vermeintlichen Schritt weiter weg zu stehen, tut der Kunst also gut. Im Falle von GABRIEL können Genderfragen weitaus allgemeingültiger betrachtet werden. Sand war in der sozialen Debatte sehr weit – so wie ihre Zeit, wodurch sie auch so zeitgemäß wirkt, aber eben mit einer Begrifflichkeit von 1837. Das Aushandeln und Sich-Ausprobieren in diversen Rollen ist Gegenstand von GABRIEL, so auch von Theater an sich – Geschichte wie Form sprechen sich gegen starre Identitäten aus.
B.S.-G.:Die Figur Gabriel, die wir am Ende sehen, fordert ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Veränderbarkeit von Identitätsvorstellungen ein, und zwar unabhängig vom biologischen Geschlecht.
S.J.: Deshalb gehe ich in der Inszenierung auch sehr stark über das Bild der Kunst – Gabriel ist ein/e Künstler/in, die eben diese andere Logik, diese performative Sicht verfolgt. Gesellschaftliche Normen aus einer anderen Position heraus in Frage zu stellen ist ihr Bestreben. Das Stück geht nicht von befreiten Individuen aus, es geht nicht um diese permanente individualistische Selbstbestimmung, sondern um die grundsätzlichere Infragestellung binärer Welten.
Sébastien Jacobi erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/Main. Festengagements führten ihn an das Theater Basel, Theater Dortmund, Schauspiel Köln und an das Schauspiel Frankfurt. Darüber hinaus gastierte er u.a in Mainz, Darmstadt oder Berlin und arbeitete immer wieder auch als Regisseur . So inszenierte er in Den Haag und Stockholm im Auftrag des Schauspiel Frankfurts für das Dramaten sowie am Schauspiel Frankfurt, dem Theater Bielefeld und dem Staatstheater Stuttgart. In Saarbrücken waren bisher seine Bio-Pics »Reise Reiser« über den Sänger Rio Reiser und »Mélodie! Maladie! Mélodrame!« über die Schauspielerin Ingrid Caven zu sehen.
Im Rahmen des Symposiums zu Theaterübersetzung »Primeurs Plus« wird Sébastien Jacobi Impulsgast sein und über sein Verhältnis zu Übersetzung, Sprache und Inszenierungsarbeit sprechen: www.festivalprimeurs.eu/primeurs-plus.
Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin und Leitung Festival Primeurs
Du schreibst die Stücke, die du inszenierst meist selbst. Wie ist bei dir das Verhältnis von Schreiben und Inszenieren?
Also geschrieben habe ich schon immer. Das Schreiben für das Theater wurde aber erst durch das Regiestudium initiiert.
Zum Probenbeginn gab es keinen fertigen Text, sondern du hast das Stück mit Ensemble und Team gemeinsam entwickelt. Ist das deine übliche Arbeitsweise?
Es gibt auch Stücke, die am Schreibtisch entstehen, z.B. »Hypnos«, das beim Heidelberger Stückemarkt nominiert wurde. Aber im Prinzip will ich bei einer gemeinsamen Arbeit nicht alles vorgeben und kontrollieren, sondern die kreativen Kapazitäten aller nutzen. Bei der Filmvorlage geht es ja um einen Chirurgen, der seiner Tochter die Gesichter anderer Frauen transplantiert und sie total dominiert. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem Autor, der den Text für eine Schauspielerin schreibt, und diesem Vater. Das Thema hat sich in meinem Arbeitsprozess seltsam wiederholt. Das wollte ich kreativ nutzen.
Im Sommer 2021 bist du für ein Stipendium am Institut für Digitaldramatik des Mannheimer Nationaltheaters nominiert worden. Gibt es für dich Parallelen zwischen Computerspielen und Theater oder muss man für digitale Formate ganz anders schreiben?
Videospiele und Theater sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich. Beim Videospiel trifft man als Spieler Entscheidungen, die den weiteren Spielverlauf bestimmen, was im Theater eher nicht der Fall ist. Trotzdem ähneln sich beide in der Funktionsweise der Blickführung, die sich z.B. sehr vom Film unterscheidet. Im Film kann man den Blick der Zuschauer lenken, indem man Sachen, die man sehen soll, ins Bild rückt, z.B. durch Großaufnahmen. Bei Videospielen und im Theater hat man diese Möglichkeit nicht, man muss Wege finden, um die Aufmerksamkeit zu leiten. Ich denke, da können Videospiele und Theater viel voneinander lernen. Ich war mal bei einem Vortrag über das Thema Blickführung von Leuten, die 3D-Filme produziert haben. Die hatten in einer Szene extra eine fliegende Taube eingebaut, weil man dann eher dieser Taube mit den Augen folgt und weiter vorne hinguckt. Solche Effekte sorgen dafür, dass die Leute mitbekommen, was im Spiel gerade wichtig ist. Und um Blickführung geht es auch auf dem Theater. Wohin leitet ein bestimmtes Licht die Blicke der Zuschauer, welchen Ton setze ich ein, um die Konzentration der Zuschauer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Was diese szenischen Vorgänge angeht, sind Videospiele und Theater sehr nah beieinander. Es gibt Events, die werden im Spiel dadurch ausgelöst, dass man etwa an einen bestimmten Ort geht oder dass eine bestimmte Zeit verstreicht. Also als praktisches Beispiel: Eine Figur setzt sich an einen Tisch, dadurch fängt die Kellnerin an, auf sie zu zulaufen, um sie dann zu fragen, was sie trinken möchte. So sind im Grunde auch Theater Szenen organisiert, die ganze Theatermaschine hat solche Abläufe. Wenn die Schauspielerin Anne Rieckhof sich in »Augen ohne Gesicht« (»Daughter`s Cut«) in der Doktorszene nach vorne dreht und anatmet, dann gibt es den Lichtwechsel und den Soundwechsel und dann sagt sie den Satz und auf der emotionalen Ebene ist das dann der Triggerpunkt, an dem die Schauspielerin Emilie Haus darauf reagiert. Viele Vorgänge im Theater lösen einander auf diese Weise aus, auch in ganz psychologischen Stücken, die sich scheinbar frei entfalten. In meinen Inszenierungen greife ich das oft auf und mache solche formalen Elemente spielerisch sichtbar.
Wenn der Scheinwerfer in deiner Inszenierung z.B. erst auf das Telefon schwenkt, bevor es zu läuten beginnt?
Ja, das ist z.B. so ein Moment, wobei der Scheinwerfer wiederum von dem emotionalen Moment ausgeht, den die Schauspielerin gerade spielt.
Wenn du über Formate Digitaler Dramatik nachdenkst, würde dir da eher ein Projekt einfallen, das komplett im digitalen Raum stattfindet oder denkst du über Mischformen nach, bei denen immer noch Leute im Zuschauerraum zusammenkommen?
Ich fände es grundsätzlich interessant, beides zu vermischen, also z.B. Molière in Minecraft zu spielen (1). Aber noch spannender finde ich die Herausforderung, Spiel-Konzepte auf Inszenierungen zu übertragen. Da gibt es nämlich sehr interessante Ideen, Ästhetiken und Geschichten. Also z.B. das Spiel-Moment, dass der/die Spieler*in das Spiel durch Entscheidungen selber eingreift. Und das wirklich als Entscheidungsbaum, wo solche Entscheidungen den Theaterabend total unterschiedlich sein lassen. Oder man könnte eine Art Fernsteuerungsidee umsetzen. Ein*e Schauspieler*in hat eine Kamera, die eine Third Person-Perspektive einführt, mit der sie sich in einem Siedler artigen Raum bewegt (2). Das sind jetzt Möglichkeiten, die es in Ansätzen schon in Theaterinszenierungen gibt und nur erste Ideen. Aber man kann da sicher noch mehr übertragen und weiterentwickeln, das für eine bestimmte Ästhetik nutzen. Ich habe zumindest Lust darauf.
Das Gespräch wurde von Maxine Theobald transkribiert.
(1) (Anm.: Minecraft ist ein Sandbox-Computerspiel, bei dem der Spieler Konstruktionen, wie Gebäude oder Schaltkreise aus zumeist würfelförmigen Elementen in einer dreidimensionalen Welt erschafft und sich darin bewegt.)
(2) (Anm.: Die Siedler ist eine Computerspielreihe, bei dem es darum geht durch geschickte Strategien eine Siedlung aufzubauen)
»Die Bücher sind nicht dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch neuer Frische sich für den Leser ergibt.« Hermann Hesse
Ich bin Geisteswissenschaftlerin. Bücher, Essays, (Fach-)Zeitschriften, Aufsätze, Hausarbeiten, in meinem Falle auch Klavierauszüge oder Partituren. Schrift und das Lesen selbiger bestimmten meinen (Studien-)Alltag.
Doch irgendwann gingen mir die Lust und die Leichtigkeit des Lesens verloren. Lesen war (wissenschaftliches) Mittel zum Zweck, diente der Beschaffung von Wissen. Die Texte, die ich las, wurden immer komplexer und komplizierter, eine gleichermaßen durchaus spannende wie zermürbende Zeit.
Irgendwann scheute ich das Lesen zur (vermeintlich) reinen Zerstreuung. Standen nicht Brahms, Beethoven oder Bach auf dem Titel, erschien es mir wie ein Verrat an der Zeit, die ich zum Studieren nutzen sollte.
Irgendwann erzählte ich davon einem mir sehr geschätzten Dozenten aus meiner Bayreuther Studienzeit, der einigermaßen erstaunt, wenn nicht gar empört reagierte. Und er sagte etwas, was mir eigentlich hätte klar sein sollen. Dass jedes Buch, möge es auch noch so trivial erscheinen, unseren Horizont erweitere. Ja, so einfach kann es manchmal sein.
Jeder Krimi, jede Biografie, jeder Liebesroman, jede Fantasiegeschichte oder jeder Reisebericht erweitere meinen Blickwinkel. Natürlich, die eine Geschichte vielleicht mehr als die andere, aber selbst wenn ich erkenne, dass ich in einem Buch nichts erkenne, so bin ich damit schon weiter als ohne es gelesen zu haben. Und so läge es an mir, das Buch in meinen Bezugsrahmen zu setzen, Neues zu erkennen, Altes zu bestätigen oder zu widerlegen. Und außerdem, ergänzte er, täte es dem Hirn auch einfach mal gut, keinen Berg zu erklimmen, sondern nur geradeaus zu laufen.
Dieses Gespräch gab mir die Freude am Lesen zurück. Und das (Selbst-)Bewusstsein, dass alles, was ich lese, ob Adorno oder Agathe (Christie) auf dem Umschlag steht, mir eine Welt offenbart, die mir ohne das Lesen verborgen bliebe.
Noch heute bildet das Lesen eine Grundlage meines Berufes, und meines privaten Seins. Und tatsächlich erkenne ich, mit kleinen Abstrichen hie und da, in jeder Lektüre etwas, das sich auf die vielseitigen Aspekte des Theaterschaffens übertragen lassen. Sei es politisch, soziologisch, historisch oder manchmal auch humoristisch.
Lesen verbindet, es verbindet uns als Gesellschaft, es gibt Anlass zum Diskurs, zur Diskussion, zum gemeinsamen Reden, Streiten, Lachen oder vielleicht auch Weinen. Und so habe ich meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sich so auf ihrem Bücherstapel sammelt.
Den Anfang macht Chefdramaturg Horst Busch:
Zum Ende der Spielzeit werden die Bücherstapel auf meinem Schreibtisch, im Wohnzimmer und neben dem Bett immer höher. Ferienzeit heißt für mich auch Lesezeit und so freue ich mich u.a. auf die Lektüre ABENDFLÜGE der englischen Autorin Helen Macdonald. Schon die erste Erzählung „Nester“sensibilisiert für die gleichermaßen bedrohte wie rettende Verbindung von Mensch und Natur. »Sich an der Komplexität der Dinge zu erfreuen.« – Was für eine wunderbare Einladung!
Aber auch auf das neuste Buch Bernd Stegemanns ..DIE ÖFFENTLICHKEIT UND IHRE FEINDE wurde von mir ganz nach oben auf den Lektürestapel gelegt. Von seinen Reflexionen über Kommunikation, Gesellschaft und Öffentlichkeit verspreche ich mir interessante Anregungen für die kommende Theatersaison mit unserem Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT!
Und natürlich stehen diverse Werke des Autors Friedrich Dürrenmatt auf meiner Leseliste. Als Vertiefung unserer Auseinandersetzung mit seiner tragischen Komödie DER BESUCH DER ALTEN DAME kann ich seine Erzählung MONDFINSTERNIS nur empfehlen.
Für unsere neue Kollegin in der Musikdramaturgie Anna Maria Jurisch geht es im Sommer vom fernen Linz nach Saarbrücken. Zeit zum Abschiednehmen:
Da ich nach 10 Jahren in Österreich nach Deutschland zurückkehre, ist Daniel Wissers Roman »Wir bleiben noch« mein persönlicher Abschied von einem wunderbaren, komplexen Land: Eine Familienerzählung, die auch die Erzählung der Sozialdemokratie in Österreich ist, die auch die Erzählung von der Macht der Boulevardpresse und vom politischen Rechtsruck Österreichs ist. Bei Daniel Wisser dürfte das aber keine trockene Lektüre werden, sondern sehr komisch, einfühlsam und berührend. Sein letzter Roman »Königin der Berge« war eine Achterbahn der Gefühle für mich und ist eines meiner liebsten Bücher.
Der Sommer ist durchaus auch die Zeit des Zugfahrens:
Lorraine Daston ist Direktorin des Max Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und eine wahnsinnig spannende Denkerin. »Against Nature« stellt die Frage, warum wir als Menschen mit solcher Hingabe nach (moralischen) Vorbildern für unser Denken und Handeln in der Natur suchen, warum wir unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Anstand und Rationalität einordnen in eine Form der »natürlichen Ordnung«, also zwischen natürlich und unnatürlich entscheiden. Es ist ein kleines, schmales Buch, das wahrscheinlich auf einer langen Zugfahrt seine Chance findet, vermutlich keine ganz leichte Lektüre, aber ein vielleicht toller Denkanstoß.
… und des Reisens:
Für mich ist der Sommer die Zeit für Reiseliteratur, am besten natürlich auch etwas über die Gegend, in die man selbst reist. Nun ist Graham Greene in den 1930er Jahren zu Fuß durch Liberia gereist – das werde ich nicht so schnell nachmachen, aber das Gefühl von Aufbruch und Entdecken eines fremden Landes, das Sich-dem-Unbekannten-Aussetzen ist für unsere Zeit sicher wichtig und inspiriert mich im Moment.
(Graham Greene hat die Reise mit seiner Cousine unternommen, die ihren eigenen Reisebericht darüber veröffentlich hat, aber das Buch ist überall vergriffen, vielleicht finde ich es ja bis zum nächsten Sommer!)
Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb hat empfiehlt:
Diese Sprache bringt eine ungekannte Welt hervor. Wunderlich. Dicht. Eine Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl, nannte die Kritik Iris Wolff. Eine andere Perspektive auf Gemeinschaft und Welt: Sieben Figuren im Siebenbürgen des vergangenen Jahrhunderts – radikal subjektive Gedankenwelten verweben sich zu einem Sound einer vergangenen deutschen Kultur inmitten des Vielvölkerstaats Rumänien. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020.
»Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren.«
Leïla Slimani, Le pays des autres / Das Land der Anderen, Luchterhand Literaturverlag 2021
Diese Reise geht in die Zeit der marokkanischen Unabhängigkeit nach Marokko – hier ist einmal die Europäerin in der Fremde. Auf diese Perspektive freue ich mich.
Schauspielerin Verena Bukal schließt sich diesem Tipp an, auch auf ihrer Leseliste steht »Das Land der Anderen«:
Dieses Buch nehme ich mit auf Urlaub. Der neue Roman von Leila Slimani – eine französische Frau folgt ihrem marokkanischen Mann nach Marokko und erlebt »Integration von der anderen Seite«. Es ist als Beginn einer Trilogie gedacht.
Benjamin Jupé, Solo-Cellist des Saarländischen Staatsorchesters, hat einen Tipp für Fans der Barockmusik oder alle, die es werden wollen:
Dieses Buch ist eine super Quelle um ein Verständnis zu entwickeln, wie vielseitig das Vibrato in der Barockmusik eingesetzt wurde. Gründlich widerlegt das Buch die unter Musikern verbreitete Annahme, Vibrato sei eine Erfindung der Romantik. Original Zitate belegen: zu jeder Zeit wurde vibriert und über den Vibrato Geschmack gestritten. Eine sehr bereichernde Lektüre!
Unser Studienleiter Martin Straubel empfiehlt hingegen…
Mein Lese-Tip für die Ferien: gar nicht lesen, sondern schreiben. Zum Beispiel mit Hilfe des Adorno Textgenerators.
Aus Thorsten Köhlers Büchstapel, Leiter der sparte4 und Schauspieler, stechen zwei Bücher besonders hervor:
Kazuo Ishiguro: »Klara und die Sonne«
In Ishiguros Roman denkt eine Künstliche Intelligenz sehr poetisch über das Leben und die Menschen nach. Klara, entwickelt für Jugendliche, ist eine Art beste Freundin auf dem Weg ins Erwachsenenalter, und eben darin problematisch: denn wie soll ein Spielzeug reagieren, welches Freundschaft und Liebe empfinden kann, wenn man es ablegt, weil man ihm entwachsen ist?
und
Charlie Kaufman: »Ameisig«
Kaufmans AMEISIG füllt die Lücke, die Foster-Wallace hinterlassen hat. Ein epischer Roman für Cineasten, und Filmliebhaber wie -hasser gleichermaßen – abgehoben, unanständig, ätzend und lustig zugleich – wer Kaufmans Filme wie ADAPTION, BEING JOHN MALKOVICH oder ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND liebt, wird seinen Debütroman verschlingen. Deutschlandfunk Kultur: »…von einer kosmischen Chuzpe.«
Auch aus dem Vorzimmer des Generalintendanten kommen Literaturtipps. Sekretärin Christine ter Braak und Ehemann Gerd ter Braak empfehlen Katzen, Geheimnisse und 1 Minute für sich:
»Gespräche mit meiner Katze« von Eduardo Jáuregui
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein absolutes Fable für Katzen habe, was natürlich bedeutet, dass ich Euch eine entsprechende Lektüre empfehle. Mir wurde das Buch von einem Menschen geschenkt, der Katzen überhaupt nicht mag. Aber er hat sich überwunden und ein Katzenbuch gekauft, weil er e mir eine Freude machen wollte. Sehr nett. Nicht wundern, die Katze im Buch – SIBILA genannt – kann reden. Aber ehrlich gesagt, habe ich oft das Gefühl, dass meine beiden Katzen auch mit mir reden. Im Buch heißt es, »Es gibt viele Wege zum Glück, aber Katzen kennen die besten Abkürzungen.« Viel Spaß beim Lesen. Christine ter Braak
»Das Erbe« von Ellen Sandberg empfiehlt Gerd ter Braak:
Eine lesenswerte Sommerlektüre: Eine junge Frau aus Berlin erbt überraschend ein Haus in München – ein Vermögen. Aber das Haus birgt ein dunkles Geheimnis: ein spannender Roman um Vertrauen, Gier, Moral und um den eigenen inneren Kompass.
Der Urlaub kann außerdem für bewusste Zeit mit sich selbst verbracht werden, Selbstfürsorge lautet ein Wort der Stunde (oder Minute):
»Eine Minute für mich« von Spencer Johnson
Ein kleines Buch – keine schwere Kost, leicht zu lesen – über den Umgang mit sich selbst und auch mit anderen Menschen. Das Buch hilft, einmal deinen Blickwinkel auf das, was dich ärgert, zu ändern, wodurch vieles leichter wird. Man kommt zu einem Bewusstsein wie, »ich trage die Antwort in mir« oder »der Frieden beginnt bei mir«. Was will man mehr! Christine ter Braak
Schauspielerin Christiane Motter verschlägt es mit Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita« literarisch nach Moskau:
Ein aberwitziger Roman, der mich mit seinen drei Strängen über einen Schriftsteller und seine Geliebte, Pontius Pilatus und über das Leben in Moskau in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts in seinen Bann zog. Verwirrend, satirisch, berührend, zauberhaft, perfekt fürs Abtauchen aus der (Corona-) Realität in eine andere Welt. Viel Freude beim Wegdriften.
Für Sopranistin Valda Wilson hält die kommende Spielzeit wieder spannende, aber durchaus streitbare (Frauen-)Figuren bereit. Zeit, sich mit dem Frauenbild in Opern auseinanderzusetzen:
Schauspielerin Emilie Haus bereichert ab der nächsten Spielzeit unser Schauspielensemble und empfiehlt folgende Werke:
Tieftraurig und amüsant über die Gesundheit und Ängste eines Schauspielers.
oder auch
Ein humorvoller Roman über linksliberale Hausprojekte, Kommunikation und das Ziel einer gerechteren Welt. Beides für mich bewegende Themen.
Betriebsdirektor Alexander Reschke ist Spezialist für CD-Aufnahmen und Opernstimmen. In Vorbereitung für unsere erste Premiere in der Sparte Musiktheater »Ariadne auf Naxos« haben ihn folgende Sängerinnen besonders geprägt:
Die beste Zerbinetta des 20. Jahrhunderts ist für mich Edita Gruberova. 100 Mal hat sie diese Partie gesungen.
Meine Lieblings Ariadne Tomowa Sintow (für mich auch die mit der größten Leidenschaft und Emphase), auch meine erste Live Ariadne 1983 (insgesamt 4 x Live bis 1991).
Mit der folgender Aufnahme bin ich aufgewachsen. Kempe einer wichtigsten Strauss Dirigenten. Besetzung durchwegs sehr gut und homogen. Besonders auch hier Ariadne und Zerbinetta. Aufnahme von 1968.
Schauspieler Fabian Gröver rechnet ab, zumindest beim Lesen Sibylle Bergs:
Eine pointierte, ehrliche, böse und auch verständnisvolle Abrechnung mit einer Gesellschaft, die wir nicht verhindern konnten oder wollten. Ist für Leser*innen verschiedener Generationen geeignet und bietet ein Erregungspotential von Heiterkeit bis Trübsinn. Die Sprache ist teilweise komplex bis herausfordernd, aber immer eine Freude!
Der 1. Konzertmeister des Saarländischen Staatsorchesters, Wolfgang Mertes, begibt sich mit Gustav Mahler auf dessen letzte Reise. Wie treffend, dass wir im 7. Sinfoniekonzert Mahlers 7. Sinfonie spielen.
Über die letzte Schiffsreise Gustav Mahlers als dahinsiechender kranker Mann, der sein Leben Revue passieren lässt.
Auf der Bestseller-Liste des Schauspielers Jan Hutter findet sich der ein oder andere Klassiker:
»Freiheit« von Jonathan Franzen (der langweiligste Klappentext aber das beste Buch).
»Liebe in Zeiten der Cholera« von Gabriel García Márquez (für alle die, die wie ich davor, nicht an die grosse Liebe glauben, aber gerne eines Besser belehrt werden wollen) .
»IT« von Stephen King (ein unverfilmbares Buch, das neben dem Horror der Kleinstadt & des Erwachsenwerdens, locker lässig und ganz nebenbei, ein Buch über Freundschaft ist. Spoiler: Ein Clown kommt auch vor.)
Schauspieldramaturgin Simone Kranz fesselte zuletzt die Biografie Anne Beaumanoirs:
Was bringt einen dazu, sich politisch zu widersetzen und welchen Preis zahlt man dafür? Fasziniert von der Biographie der 1923 in der Bretagne geborenen Anne Beaumanoir, die sowohl während der deutschen Besatzung in der Résistance gekämpft hat, als auch in den fünfziger Jahren in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, erzählt Anne Weber von ihrer Begegnung mit dieser Frau. Wunderbar an diesem Buch ist auch und besonders die Form: Es ist tatsächlich im epischen Versmaß geschrieben, doch nach 2-3 Seiten hat man die Verwunderung darüber vergessen und genießt nur noch die Schönheit und Leichtigkeit der Sprache.
Schauspieler Bernd Geiling empfiehlt eine mörderisch-gute Trilogie:
Der mörderische Hof Heinrichs des Achten aus der Sicht Thomas Cromwells, eines begnadeten politischen Aufsteigers und Intriganten.
Wie der Engländer sagt: »Unputdownable!«
Auch der Bücherstapel Christine Asts, Souffleuse, ist hoch:
Fabio Andina »Tage mit Felice«
Dieses Buch spielt in einem Bergdorf im Tessin, und alles dreht sich um den 92-jährigen Felice und dessen Anbindung an die Dorfgemeinschaft. Er wandert jeden Morgen zu einer Gumpe und springt ins kalte Wasser. Begleitet wird er eine Woche lang vom Autoren/literarischen Ich, der als Kind, in der Stadt aufgewachsen, die Ferien mit seinen Eltern in Felices Dorf zugebracht hatte. Als Schriftsteller zieht er sich nun in diese dörfliche Gemeinschaft zurück, ins ehemalige Ferienhaus seiner Eltern, und wird so zum Nachbarn von Felice.
Nachdem ich »Bouches les Rouges« gesehen habe, griff ich ein zweites Mal zu »Fräulein Nettes kurzer Sommer« von Karen Duv.
Ein entscheidender Sommer im Leben der Anette von Droste-Hülsoff – Autoren der Romantik (Brüder Grimm, Heinrich Heine) und literarisch- patriotische Studentenkreise bilden den Hintergrund zu einer Emanzipationsgeschichte, die in einen Skandal mündet.
»Das Leben der Elena Silber« von Alexander Osang
Ein Drei- Generationen-Roman: ich habe mich sehr vertraut gefühlt mit den lakonischen und schmerzhaften Auseinandersetzungen des literarischen Ichs mit seiner Mutter, seinem demenzkranken Vater. Und dann rollt er die Geschichte seiner Großmutter, seiner Mutter und seiner vier Tanten für ein Filmprojekt auf. Der Roman pendelt zunehmend zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Toll!
Gertrud Leutenegger, »Pomona« und »Späte Gäste«
Diese beiden Romane gehören zusammen, der erste 2004 erschienen, der zweite, die Fortsetzung, wurde 2020 herausgegeben.
Wir befinden uns im südöstlichsten Zipfel des Tessins, schon fast in Italien. Die Autorin erzählt ihrer Tochter das Leben ihrer Mutter (Großmutter), der eigenen Kindheit und schiefgelaufenen Ehe. Also quasi als Erklärung dafür, warum ihr Mann (Vater) im Dorf geblieben ist und sie mit ihrer Tochter in die Großstadt (Zürich?) gezogen/ geflohen ist. Im zweiten Band kommt sie zurück ins Dorf, da ihr Exmann gestorben ist. Es ist die poetische Schreibweise der Autorin, ihre Assoziationsketten, ihre fast haptische Beschreibung zweier Dörfer – ich konnte die Naturphänomene riechen, schmecken, spüren.
Sänger Algirdas Drevinskas verbindet mit einem Buch eine ganz besondere Zeit seines Lebens:
Das Buch von Alexandra Wild »Zu Mittag um zwölf war alles erledigt« (edition keiper, Graz 2020) habe von meinen damaligen Unterstützern während meiner Studien an der Kunst Universität Graz bekommen: noch eine traurige österreichisch-slovenische Familiengeschichte die bestätigt, dass die Menschen KEINE Kriege brauchen.
Es geht um die Jahrzehnte lange Suche des (Grabes) vermissten (ermordeten) Vaters am Ende des 2 Weltkrieges.
Schauspielerin Laura Trapp empfiehlt 105 intensive Seiten von Carolin Emcke:
»Was wäre, wenn?«, das frage ich mich oft. Und der Gedanke, im Jenseits gäbe es eine Bibliothek mit all den Leben, die ich hätte führen können, Buch für Buch, ist beängstigend und faszinierend zugleich. Matt Haig schickt seine Protagonistin Nora Seed auf eben genau diese Reise in seinem Roman »Die Mitternachtsbibliothek«.
In den Spielzeitferien geht es für viele von uns nach Hause. Aber was bedeutet das eigentlich, »Zuhause«? Ein Ort? Ein Mensch? Ein Hund? Was macht uns aus, wo gehören wir hin? »Über eine Sehnsucht und die vielleicht wichtigste Suche unseres Lebens« schreibt Daniel Schreiber in seinem essayistischen Roman:
Wir wünschen Ihnen einen schönen Lese-Sommer, viel Freude beim Entdecken neuer (literarischer) Welten. Vielleicht finden Sie ja in der einen oder anderen ein neues Zuhause.
Frederike Krüger, Dramaturgin für Musiktheater und Konzert