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Theaterblog

»Look at the woman I’ve become« oder Wann ist eine Frau eine Frau?

Dein Debüt am Saarländischen Staatstheater ist eine Wiederbegegnung mit Hedwig. 2017 hast du in dieser Rolle dein professionelles Musical-Debüt in Frankfurt gegeben. Wie beschreibst du deine Beziehung zu dieser Figur?

Zum Artikel:  »Love creates something that was not there before« – Hedwig erzählt von der Liebe

Hedwig ist für mich musikalisch und inhaltlich eine der spannendsten Figuren im Musical. Mit all den Realitäten, die sie an dem Abend bespricht, gibt es so wahnsinnig viel Irreales. Da ist natürlich gleich die Frage nach ihrer Identität: Ist sie eine Frau? ist sie eine Dragqueen? Ist sie trans*? Oder nichts von dem? Eigentlich passt sie in diese ganzen Muster überhaupt nicht hinein, sondern sie ist eine Kunstfigur. Gleichzeitig trägt sie ganz viel Wahrheit in sich, indem sie so viel von sich preisgibt. Mich fasziniert die Annahme, dass sie jeden Abend eigentlich neu entscheidet, was sie in dem Konzert über sich erzählt und was nicht. Und mit dieser Dynamik spiele ich: Was ist wahr? Was ist übertrieben, vielleicht erfunden?

Welche neuen Seiten hast du an Hedwig kennengelernt?

Das habe ich mich neulich auch gefragt. Mache ich eigentlich alles genauso? Natürlich habe ich meine Art, Hedwig zu sprechen, mich auf diesen hohen Schuhen zu bewegen, meine eigene Körperlichkeit. Damals in Frankfurt war ich die Zweitbesetzung. Hier in Saarbrücken kann ich viel mehr Kreieren, meine eigene Hedwig erfinden. Ich muss gar nicht jede Frage über Hedwig beantworten können. Das kann jede Produktion und jede*r Zuschauer*in für sich neu. Die Dinge in einer Uneindeutigkeit zu belassen, macht es so spannend.

Hedwig zieht ihre »OneWoMan*Show« durch und doch setzt sie sich ständig ins Verhältnis zu den Anderen – den Anwesenden, und vielleicht noch entscheidender, zu den Abwesenden, besonders ihrer verlorenen Liebe Tommy.

Der Abend ist auch deswegen so besonders und unberechenbar, weil Hedwig relativ wenig mit den anderen Personen auf der Bühne agiert, sondern wichtiger ist das Spiel mit dem Publikum. Natürlich habe ich einen Text und die Inszenierung, aber das, was an diesem Abend passiert, ist ganz entscheidend von den Reaktionen der Zuschauer*innen abhängig. Das mag ich. Hedwig hat Spaß daran, die Episoden aus ihrer Vergangenheit wirklich erlebbar zu machen und das Publikum in ihre Geschichte reinzuziehen. »Das spielen wir jetzt mal eben zusammen nach,« übertrieben gesagt. Sie hat Spaß daran, den Personen aus ihrer Vergangenheit ihre Stimme zu geben, ihre einzigartige Körperlichkeit. Über Jahre hat sie sich eine Performance gebaut, um die eigene Geschichte einerseits künstlerisch zu verarbeiten. Andererseits gibt ihr das ein Gefühl von Sicherheit. Wie ein Panzer, der sich dann im Laufe des Konzerts nach und nach dekonstruiert. Sie könnte das ja alles viel blumiger malen. Aber sie geht immer dorthin, wo es weh tut. Es gibt Momente, an denen sie tiefer blicken lässt, dann aber schnell wieder versucht, Fassung zu gewinnen. Sie bricht zusammen, geht ab, zieht sich um und kommt strahlend wieder hervor. Alles wieder gut. The show must go on.

Welche Rolle spielen Kostüm, Perücke und Schminke? Ist das mehr Fassade oder wichtiger Teil der Identität?

Das ist Fassade, Selbstschutz, und gleichzeitig wichtiger Teil ihrer Selbstfindung. Hedwig steht zwischen Mann und Frau, ist aber ganz klar eine Fiktion mit dieser schiefgegangenen Operation. Sie klebt sich Brüste an und hat diesen »angry inch« da unten, alles Weitere wird ja gar nicht thematisiert. Das ist ja anders als bei transidentitären Menschen, die sich im falschen Körper fühlen. Für mich ist sie eigentlich nach wie vor ein schwuler Junge, dem es der Schritt in die Freiheit wert war, sein Geschlechtsteil zu opfern. Dabei ist die Fassade eine weibliche. Und wenn die Welt von ihr will, dass sie nur als »Frau« frei sein kann, dann zeigt sie der Welt, was eine »Frau« alles sein kann. »You’ll buy me the dress, and I’ll be more woman than a man like you can stand«, heißt es in ihrem Song »Sugar Daddy«. Dann bin ich mehr Frau, als eine Frau je sein könnte – diese Haltung habe ich mir für meine Hedwig vorgenommen. Sie ist kein Mensch für halbe Sachen. Diese Show erzählt aber auch etwas darüber, wie sie ohne Schminke, ohne Fassade, ohne die Anderen, vielleicht sogar ohne die Musik allein mit sich selbst glücklich sein kann.

Gelingt es ihr in der Musik näher bei sich selbst sein?

Die Musik ist ihre erste große Liebe. In der Musik kann sie sich mit all ihren Facetten ausdrücken, in ihre Songs hat sie alles von sich reingelegt. Dort hat sie eine Souveränität, die sie sonst nicht hat. Und wo sie die Kontrolle hat, da kann sie es auch ausstrahlen. An dem Konzertabend verliert sie diese eben immer wieder zwischen den Songs.

Musikalisch mäandert der Abend zwischen Glam-Rock, Grunge, Country und soften Rock-Balladen. Gibt es einen Song, in welchem du Hedwig am nächsten kommst? Einen Lieblingssong?

»Wig in a box«. Der Song ist musikalisch extrem vielseitig und macht dabei unglaublich Spaß. Eigentlich bringt er genau ihre Geschichte auf den Punkt. Sie muss den Weg, den sie eingeschlagen hat, weitergehen, um ihr Glück zu finden und erfolgreich zu sein, und sei es mit Make-Up und Perücke. Die Perücke ist ein Relikt aus einer anderen Zeit und wird zu einem wichtigen Symbol; sie kann sie immer wieder aufziehen und sich damit rausziehen aus dem Loch. Gleichzeitig ist das wie ein Bumerang: Sie kommt immer wieder dorthin zurück. »The origin of love« – »Bevor die Liebe entstand« ist auch ein zentraler Song, denn er erzählt uns, woher ihre Suche nach der anderen Hälfte kommt. Die Songs sind vielleicht eher noch ein Fenster zu ihrer Seele als die gesprochenen Texte.

Seit der Uraufführung von »Hedwig and the Angry Inch« sind 25 Jahre vergangen. Wie ist das Stück für dich im Hinblick auf seine politische Agenda gealtert?

Auch wenn queere Themen und Anliegen der LGBTQIA+-Community mehr ins Bewusstsein gerückt sind, gibt es noch viel Unsicherheit. Vielen, mich eingenommen, fällt es schwer, da genau zu differenzieren. LGBTQIA+ – was ist aktuell der richtige Ausdruck? Das verändert sich oder wird von Gruppe zu Gruppe anders definiert. Was versteht man jetzt unter Begriffen wie »trans« oder »nicht-binär«? Wie werden Grenzen gezogen? Und woher weiß ich, was das Selbstverständnis dieser oder jener Person ist? Andererseits nehme ich heute auch einen großen Verdruss gegenüber dem Thema war – ähnlich beim Thema Gendern. Das ist so ein »Hassfeld« geworden für Anti-LGBTQIA+ Einstellungen. Und das ist dramatisch. Ähnlich wie beim Umgang mit der Klimakrise. Da gibt es auch eine Anti-Haltung aus Angst, die eigene Komfortzone bedroht zu sehen. Hedwig ist ja keine typische queere Rolle bzw. sie ist als Kunstfigur vielleicht wenig beispielgebend. Vielleicht auch, weil ihr eigentliches Thema ist, wie man im Leben Liebe, Glück und das Gefühl von Ganzheit finden kann. Und das ist in erster Linie eine sehr universelle Sehnsucht.

Das Gespräch führte Stephanie Schulze

Fotos: Martin Kaufhold (Hauptprobe, 20.10.2023), Svenja Drewitz (Lukas Witzel)

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Theaterblog

TERROR von Ferdinand von Schirach: Die Grundlage des Urteils

Die Bühne ist ein Gerichtssaal. Der Angeklagte, Lars Koch, wird des 164fachen Mordes beschuldigt. Den folgenden Tathergang hat er bereits gestanden: Als Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr hatte er den Befehl, eine Passagiermaschine, die von Terroristen entführt wurde, zu eskortieren. Als das Flugzeug Kurs auf ein mit 70.000 Zuschauern besetztes Fußballstadion nimmt, schießt Lars Koch das Flugzeug, gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzen, ab. Seine Begründung: er habe die 70 000 Menschen im Stadion retten wollen und dafür die 164 Passagiere des Linienfluges opfern müssen. Ist dieses Motiv mit der im Grundgesetz Artikel 1 verankerten »Würde des Menschen« vereinbar, die vorgibt, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfen?

Foto: Martin Kaufhold

Schon zu Beginn der Theatervorstellung erklärt die Vorsitzende die Zuschauer zu Schöffen, also Laienrichtern. Das Publikum soll nach Zeugenvernehmung und Plädoyers über die Schuld des Angeklagten richten. Je nach der Entscheidung der Zuschauer, ob Lars Koch schuldig oder nicht-schuldig gesprochen wird, nimmt der Theaterabend einen anderen Verlauf. Der Urteilsspruch richtet sich jeweils nach dem Votum des an diesem Abend anwesenden Theaterpublikums.

Im Laufe der Verhandlung wird die Rechtslage erläutert, das Grundgesetz zitiert, werden Zeugen vernommen. Mit Frau Meiser, der Nebenklägern, kommt eine Angehörige der Opfer zu Wort. Entsprechen die juristischen Vorgaben dem moralischen Empfinden des Publikums, das nun Recht sprechen soll? War der Absturz der Passagiermaschine wirklich die einzige Möglichkeit, das Leben der Stadion-Besucher zu retten? Wie kommt das Urteil der Zuschauer zustande?

In einem Interview äußerte sich der studierte Jurist Ferdinand von Schirach über die Wirkung seines Erfolgsstückes Terror: »Ich habe erlebt, wie Zuschauer nach der Aufführung im Foyer blieben, um weiter miteinander zu diskutieren. Alle redeten über den Staat, über unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, die Verfassung wurde plötzlich lebendig. Das genau ist es, wofür ich schreibe, für diesen Moment, der alles ermöglicht.«

Foto: Martin Kaufhold

Die Saarbrücker Inszenierung in der Regie von Jonas Knecht unterstreicht die Künstlichkeit des Theaterabends, will nicht vorgeben, ein Gerichtverfahren zu sein. Angefangen bei dem blubbernden Wasserspender über das orchestral gesetzte Rascheln der Gerichtsakten, dem Klackern der Tastatur der Gerichtsschreiberin bis hin zu dem sich drehenden Zeugenstuhl werden akustische und optische Mittel eingesetzt, die den Spannungsbogen der Inszenierung rhythmisieren. Hinzu kommen die überdimensional projizierten Filmaufnahmen der Live-Kamera, die das psychologische Spiel der Schauspieler vergrößern und sie ganz nah an die Zuschauer bringen. Gleichzeitig manipulieren die Filmbilder die Blickrichtung, bestimmen den Fokus der Aufmerksamkeit. Ist der Appell der Vorsitzenden am Anfang des Theaterabends »ausschließlich über das (zu) urteilen, was Sie hier in der Verhandlung hören« nicht eine Illusion? Können wirklich »nur die Beweise, die wir hier erheben«, Grundlage des Urteils sein?

Ferdinand von Schirachs Stück ist eine Versuchsanordnung, ein Spiel, das perfekt durchkomponiert ein ethisch moralisches Dilemma präsentiert. Der eingebaute Entscheidungsprozess macht das Publikum zu Mitspielern und verhilft dem Stück zu seiner Popularität: Terror wurde bereits in elf Ländern auf fünf Kontinenten gezeigt.  Simone Kranz

Salzburger Rede

Unser einziger sicherer Halt, meine Damen und Herren, sind die Verfassungen der freien Länder. Auch wenn es langweilig klingt: nur ihre komplizierten Regeln, nur ihre Ausgewogenheit und Langsamkeit, ordnen unsere schwankenden Gefühle, sie lehnen Wut und Rache als Ratgeber ab, sie achten den Schwächeren, und am Ende sind sie es, die uns vor uns selber schützen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich ein Theaterstück geschrieben habe, in dem das Publikum ein Urteil fällen soll, wenn ich doch gegen Volksentscheide bin. Theater und Literatur haben ganz andere Aufgaben als Politik und Justiz. Im Theater begegnen wir uns selbst, unseren Reflexen, Gefühlen, Gedanken. Wir ringen mit uns, sind hin- und hergerissen, wir streiten, zweifeln, verwerfen und suchen nach der richtigen Lösung. Das Theater wird so zu einem Forum, auf dem »res publica«, die öffentliche Sache, verhandelt wird. Die Abstimmung dient nur der Anregung, nicht mehr und nicht weniger.

(…) Kein Mensch, auch nicht der Wähler, ist im Besitz der Wahrheit, unsere Zukunft ist niemals alternativlos – im Gegenteil, sie ist offen. Wir können – und dürfen deshalb nur kleine Schritte gehen, jede Veränderung muss korrigierbar sein. Einfache Wahrheiten gibt es nicht, sie gab es noch nie, und Schwarm Intelligenz, zumindest in der Politik, ist am Ende nur ein weiterer Modebegriff für die hässliche Macht des Stärkeren. Tyrannei entsteht durch die Aufhebung der Gewaltenteilung. Und dabei ist es ganz gleichgültig, ob das – wie in der Oper – ein Tyrann selbst tut oder ob es der angebliche Wille des Volkes ist. Gerade in diesen aufgeregten Zeiten müssen wir das Recht gegen die Macht stellen.

Auszüge aus der Festrede von Ferdinand von Schirach zur Eröffnung der Salzburger Festspiel 2017

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Auf ein Wort Theaterblog

»FAST ALLES IST POP.«

Gesa Oetting #PEEP! spielt im Kaufhaus, die Spieler*innen
verkörpern verschiedene Spielzeuge. Was erzählen sie uns?

Mona Sabaschus Wir begegnen Spielzeugen, die nach Ladenschluss zum Leben erwachen und sich deprimiert fragen, warum sie Ladenhüter sind. Alle hoffen auf ein Leben außerhalb des Kaufhauses, um ihren Daseinszweck zu erfüllen: zu unterhalten und Freude zu bereiten. Als die Müllpresse droht, bricht Panik aus. Sie beginnen, alle möglichen Strategien durchzuspielen, um ihren Marktwert zu steigern. Singend und tanzend buhlen sie um potentielle Käufer*innen und lavieren sich durch verschiedenste Zuschreibungen, Sehnsüchte und Glaubenssätze unserer Gesellschaft. Zwischen Imagefindung und Selbstoptimierung halten sie uns dabei gehörig den Spiegel vor.

Lea Ostrovskyi in »#Peep!« (Foto: Honkphoto).

Oetting Die Figuren bei #PEEP! äußern sich fast nur über Popsongs – wie fiel deine Wahl auf Popmusik als Ausdrucksmittel?

Sabaschus Mich interessiert die ständige Wechselwirkung, wie Pop uns beeinflusst und wir den Pop. Dabei ist Musik nur ein Aspekt von Popkultur, auf die wir uns in #PEEP! immer wieder beziehen. Fast alles ist Pop und wir sind davon unweigerlich umgeben. Popkultur ist immer auch Produkt gesellschaftlicher Prozesse, reflektiert Diskurse und nimmt diese dabei gleichzeitig für sich ein, um sie kommerziell zu verwerten. Sie ist also total ambivalent und bewegt sich somit in einem aufregenden Spannungsfeld, an dem man sich gut abarbeiten kann!
Das Gespräch führte Gesa Oetting

#PEEP!
Kammermusical von Mona Sabaschus
Mona Sabaschus
B + K Janin Lang
ML Johannes Mittl
C Claudia Meystre
D Gesa Oetting

Mit Bauer, Trapp, Ostrovskiy; Kretschmer, Hutter, Wischniowski

Band: Jochen Lauer, Johannes Mittl, Max Popp, Marc Sauer

Uraufführung: 15. September 2023, 19:30 Uhr,Alte Feuerwache

Weitere Vorstellungen:
September 22., 27., 29., 30.
Oktober 3., 6., 15., 26.

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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Terror: Meinungen von Schüler*innen aus der Marienschule

Schüler*innen der Kursstufe 12 der Marienschule Saarbrücken waren am 30. November 2022 in der Vorstellung »Terror« in der Alten Feuerwache. An diesem Abend ist die Abstimmung 125 zu 29 für einen Freispruch von Lars Koch ausgefallen. Dieses eindeutige Ergebnis hat die Schüler*innen erstaunt. Hier einige Einblicke in den Gedanken und Argumentationen der Klasse

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

KLARHEIT IN DER UNKLARHEIT

Einsichten einer Dramaturgiehospitantin, die den Probenprozess von BERENIKE begleitet hat

Es gibt offensichtlich einige Fragen, die ich mir im Probenprozess zur Tragödie BERENIKE von Jean Racine gestellt habe: Wer ist eigentlich diese Berenike und welche Ziele hat sie? Wie heutig ist die Figur? Welche Rolle spielt die Politik in ihrem Leben?
Der Text, 1670 uraufgeführt, spielt im Jahr 79 nach Christus. Titus (Jan Hutter) ist gerade römischer Kaiser geworden und ist mit Berenike verlobt. Da gibt es aber auch Antiochus (Sébastien Jacobi), ein Freund von beiden aus Judäa, der Berenike seit Jahren liebt. Beim Versuch, Antworten auf diese vielen Fragen zu finden, habe ich mit Laura Trapp (Schauspielerin der Berenike) und Alice Buddeberg (Regisseurin) gesprochen.

Schon bei meiner ersten Probe ist mir aufgefallen, dass es im Text keineswegs nur um eine tiefe Liebe geht, die durch äußere (und innere?) Umstände nicht in einem Happy End enden kann. Es geht vor allem auch darum, dass Frauen – egal in welchem Zeitalter – zu oft in Zwänge gebracht werden.
Dabei ist es irrelevant, ob diese Zwänge von Mitmenschen, Partner*innen oder äußeren Einflüssen begünstigt werden. In Berenikes Fall wird nie klar sein unter welchen Umständen und aus welchen Gründen sie – und auch Antiochus – nach Rom gekommen sind. Bei Racine ist die Liebe zu Titus der Grund, doch wir können uns nicht sicher sein, dass er das auch wirklich war. Doch wie damit umgehen? Sich der Menge beugen, die sie als Nicht-Römerin nie akzeptieren wird und ihren Weggang fordert? Einen Kompromiss finden? Der großen Liebe entsagen und mit dem zweitbesten gehen, der sie auch liebt? Einfach gehen – allein und ohne sichtbaren Plan? Im Stück werden verschiedene Optionen durchdacht und geplant.

Was interessiert uns aber an der Person Berenike? Erstmal vor allem der Konflikt in den sie im Krieg gerät: unter welchen Umständen und mit welchen Gründen kommt Berenike nach Rom? Welchen politischen Zwängen ist sie aufgrund des Krieges unterworfen? Ganz klar ist für Alice Buddeberg, dass sie in einer kaputten, kriegerischen Welt lebt, in der sie nicht anerkannt wird und die Beteiligten sich dann in Privatismen begeben, die natürlich vom Außen geprägt sind. Titus´ Vertrauter Paulinus (Fabian Gröver) vertritt die Menge des römischen Volkes, deren Ansichten und/oder seine eigenen Interessen.

Wie also eine so alte und doch so aktuelle Figur darstellen?

Laut Laura Trapp helfen vor allem die Kostüme mit Korsett und Pumphosen dabei den erhabenen, königlichen Aspekt darzustellen – nicht gerade etwas, was man heute häufig privat erlebt. Spannend ist auch, dass alle Schauspieler*innen das gleiche Grundkostüm tragen (Kostüm und Bühne Sandra Rosenstiel), was alle Genderfragen äußerlich irrelevant werden lässt. Ganz klar ist für sie aber auch, dass die Beziehungsgespräche, die im Stück geführt werden, auch heute noch so geführt werden. Die Sprache mag zwar eine andere sein, doch der Inhalt ist gleich. Auch in der Sozialisation von Frauen und Männern – Frauen suchen das Gespräch, trösten, unterstützen und Männer schweigen – gibt es eine Parallele. Auch Berenike erlebt das durch die Unwissenheit und Unklarheit, in der sie gelassen wird. »Sprich mit mir!« ist daher nicht ohne Grund einer der wichtigsten Sätze im Stück! Um ihre Zwänge und inneren Zustände darzustellen, hilft auch die Musik (Mirjam Beierle).

Jan Hutter (Titus) und Laura Trapp (Berenike). © Martin Kaufhold.

Der historische Hintergrund

Eine weitere spannende Frage ist die, was mit Berenike nach ihrer Zeit bei Titus in Rom passiert ist. Alle historischen Spuren verlieren sich kurz danach. Das Schöne an der Freiheit des Theaters ist in diesem Fall, dass jede*r ein eigenes persönliches Ende ihrer Geschichte finden kann. Ich bin sicher, jede*r Beteiligte*r hat seine eigene Version der Fortsetzung.

Berenike soll ganz klar keine wütende oder emotionale Furie sein, die typisch weiblich gelesen wird. Sie ist eine intelligente Frau, die wütend ist, doch der Auslöser dafür ist eine große zugrundeliegende Angst und Unsicherheit. Berenike ist ein Mensch der viel durchgemacht hat und versucht seine Gefühle zu ordnen und damit zu leben. Wie Alice Buddeberg schön beschreibt, ist sie radikal in ihrer Liebe aber sieht für sich nur einen Ausweg, den ich jetzt hier nicht vorwegnehmen will. So viel sei gesagt: sie wird gestärkt aus der Situation hinausgehen.

Über die Autorin dieses Artikels: Christina Schmidt (20) ist Studentin der Theaterwissenschaft und Germanistik an der JGU Mainz und hat in ihrer Dramaturgiehospitanz sowohl die Proben begleitet, als auch in der Dramaturgie gearbeitet. Ihre Aufgaben changierten von Bühneeinrichtung über Fassung aktualisieren zu Blogbeitrag schreiben. 

BERENIKE ab 17. September 2022 in der Alten Feuerwache des Staatstheaters.

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Auf ein Wort

ÜBER DEMOKRATISCHE SCHIEFLAGEN, EXALTIERTE FIGUREN UND ZEITGENOSSENSCHAFT

In dem Dramentext VERFAHREN geht es um den historischen NSU-Prozess und das Bedürfnis der Aufarbeitung dieser rechtsextremistischen Mordserie sowie um die neueren Anschläge und Methodiken aus der rechten Szene den Rechtsstaat zu schwächen. Ein Stoff, der durch die literarische und theatrale Bearbeitung zu einem fiktionalen Dialog mit uns Publikum geworden ist und – nicht ohne humoreske Überzeichnung – ein Appell der Positionierung an uns richtet. Regisseurin Marie Bues gibt uns im Gespräch mit Produktionsdramaturgin Bettina Schuster-Gäb Einblicke in ihren inszenatorischen Umgang mit Stück und Thematik.   

Foto © Martin Kaufhold.

Bettina Schuster-Gäb: Was ist inszenatorisch reizvoll an dem Verfahrensstoff?

Marie Bues: In erster Linie: die politische Botschaft! Verfahren ist einerseits ein Reflektieren des NSU-Prozesses und damit ein Reflektieren unseres Justizsystems und seiner Grenzen, sowie andererseits ein politisches Aufarbeiten unangenehmster jüngster deutscher Geschichte.

BSG: Es wendet sich also nicht nur den letzten 20 Jahren oder sogar den Nachwende-Jahren zu ,…

MB: … sondern auch unserem Hier und Jetzt, der Verlängerung der Terrorachse von rechts bis in unsere Gegenwart hinein und will diesen Rechtsruck thematisieren. In einer Zeit, in der Rechtsextremisten Attentate begehen, Hackangriffe auf Kommunen verüben, rechte Parolen über freie Wahlen wieder Einzug in Landesparlamente erhalten, in einer Zeit, in der rechte Meinungen also wieder salonfähig in der Mitte der Gesellschaft werden, und in der in nicht allzu fernen Ländern demokratische Grundprinzipien abgeschafft und mit den Füßen getreten werden, indem dort Diktatoren das Ruder übernehmen, in diesen Zeiten sollte das Theater und seine zeitgenössischen Autor*innen genau diese demokratische Schieflage reflektieren und in unser Bewusstsein bringen. 

BSG: Wie schafft dies Kathrin Röggla und an was kann sich die Regie hier abarbeiten?

MB: Das Stück betrachtet den Prozess nicht aus einer Opfer- oder Täterperspektive, sondern versucht »normalen« Bürger*innen, den Zuschauer*innen eines Prozesses und ihren unterschiedlichen Meinungen zu dem Prozess Raum zu geben. Damit bringt sie verschiedene Strömungen in der Gesellschaft zum Sprechen, und weist auch deren Ängste und Verwicklungen in die Themen, die der Prozess aufwirft, auf. Ihre Sprache ist präzise und humorvoll, ja manchmal von beißendem bitteren Humor, der entlarvend ist. Es ist die Sprache, die durch dieses Verfahren führt und uns die Kraft von Sprache im Gericht, überhaupt das Werkzeug der Sprache als Machtinstrument verständlich macht. Sie ist die eigentliche Hauptakteur*in.

BSG: Und was ist mit den Figuren im Stück? Wie schaffen sie die Balance zwischen dokumentarischem Material und literarischer wie auch theatraler Fiktion?  

MB: Multiperspektive ist ein vertrautes Mittel im Theater, durch Einteilung eines Textes in Figuren per se, und dennoch ein ungewöhnliches Mittel, wenn es um so einen hochpolitisierten Prozess geht, an dem sich gesellschaftlich so vieles entzündet hat. Es wäre einfacher, sich einseitiger, also klarer zu positionieren. Ich bin dankbar, dass Kathrin Röggla differenziert schaut, jahrelang verschiedene Perspektiven auf diesen Prozess recherchiert und in Worte gefasst hat. Das ist sehr wertvoll in einer Gesellschaft, die angesichts bestimmter Diskurse zur Generalisierung neigt. Dass die Rechtstaatlichkeit eine Grundstütze der Demokratie ist, was vielen im Alltag fernab politischer Entscheidungen so nicht klar ist, wird im Stück zur Grundthematik ausgebaut. Im Stück wird das durch die Gerichtsdienerin gezeigt, die sozusagen das Sprachrohr des Gerichts ist und immer mehr angegriffen wird, ins Schleudern kommt beim Reenactment dieses Prozesses. Weil er eben viel zu ausufernd ist, weil er einerseits zu klein angesetzt wurde (die Theorie eines Trios, anstatt eines großen Netzwerks) und anderseits nicht genug gerichtet hat (betreffend die Angeklagten selbst sowie die schweigenden rechten Helfer, die vor weitergehenden Ermittlungen verschont blieben, die Versäumnisse seitens des Staats betreffend) etc.

BSG: Insofern sprechen die Figuren auch über sich hinaus für eine Gerichtsöffentlichkeit, die Aufarbeitung verlangt. Hier geht es dann plötzlich viel mehr um Erinnerungskultur als um Figurenpsychologie – und damit auch um die Zukunft.

MB: Absolut. Da es im Text immer wieder die Schauspieler*innenebene gibt, in der die Spieler*innen darüber sprechen, wie das Reenactment des Prozesses ihnen so gelingt und was daran wiederum nicht ganz hinhaut, liegt in dieser Methodik auch die gesellschaftliche Möglichkeit der Selbsthinterfragung und der zukünftigen »demokratischen Verbesserung« für uns als Theaterschauende.

BSG: Das Regieteam besteht ja noch aus Heike Mondschein, Bahar Meriç und Kat Kaufmann – wie spielen die Elemente Bühne und Kostüme, Choreografie und Musik in dieser Arbeit ineinander?

MB: Wir haben uns für eine abstrakte Setzung entschieden: eine Bühne, die an Orte der demokratischen Öffentlichkeit erinnert, an eine antike Agora oder an öffentliche Platzarchitekturen, aber auch an ein Labyrinth. Wir haben das Stück so nicht direkt ins Gericht gesetzt (das macht ja bereits der Text), sondern an einen allgemeineren Verhandlungsort des öffentlichen Lebens, der Demokratie. Durch die abstrakte Setzung und die immergleiche Situation im Stück – das Warten auf den Prozess oder auf den Fortgang des Prozesses – haben wir uns erlaubt eine eigene Art theatraler Ebene einzuziehen: eine etwas grotesk überhöhte Körperlichkeit der Figuren und der Gruppe »Emporencommunity«. Die Choreographin Bahar Meriç hat hier an verschiedenen zeichenhaften Bewegungen für die einzelnen Figuren gearbeitet und einige Gruppenbilder und Choreografien geschaffen, die den Zustand der Prozessbeobachter*innen auf artifizielle Art und Weise beschreibt.

Die Kostüme sind sehr »fashionable«, extrem/exaltiert, und stimmen nicht in jedem Moment mit der im Stück befindliche Beschreibung der Figuren überein. Das haben wir gemacht, weil wir die Figurenbeschreibungen als gedankliche Verortungen empfanden, die auf der Bühne nicht 1:1 beglaubigt werden muss. Wir haben zum Beispiel auch nicht »typbesetzt«: den »Sogenannten Ausländer« spielt im Stück eben auch kein türkischstämmiger Schauspieler. Das wäre nicht gut gewesen und hätte Klischees bestätigt, gegen die das Stück sich aktiv wendet. So wenden wir uns auch in der Besetzung gegen ein Typcasting nach Nationalität, Hautfarbe oder Gender.

Die Musik von Kat Kaufmann versucht auch die Trauer und die Ernsthaftigkeit mit ins Zentrum zu rücken und auf der musikalischen Ebene neben aller Aufgedrehtheit der absurden Beobachter*innenpositionen das Wesentliche nicht aus dem Auge zu verlieren: die unfassbare Grausamkeit dieser Mordserie, und der Kontinuität dieser Taten und ihrer gedanklichen Anfänge in unserer Gesellschaft.

Foto © Martin Kaufhold.

BSG: Du hast dich seit Beginn deiner Regielaufbahn bewusst für zeitgenössische Dramatik entschieden – deine Regiearbeiten lesen sich als seismographische Stimme der Jetztzeit, u.a. lässt sich daraus eine enge Verbundenheit mit Thomas Köck und Sivan Ben Yishai, aber auch mit Felicia Zeller, Elfriede Jelinek und Sibylle Berg herauslesen. Was haben diese Texte, was klassische Stoffe nicht haben?

MB: Mich mit unserer unmittelbaren Gegenwart zu beschäftigen und dies mit unserer heutigen Sprache und unserem heutigen Humor zu reflektieren, ist eine ganz bewußte Entscheidung. Mit Autor*innen, mit denen ich mich auseinandersetzen kann, mit denen ich Themen der Stücke besprechen und damit auch ein stückweit erarbeiten kann. Das interessiert mich persönlich am meisten am Theater. Ich habe Spass daran mich damit zu beschäftigen, wie aus unserer Zeitgenossenschaft eine Sprache, wie daraus Perspektiven und Spielweisen entstehen. 

Foto © Kerstin Schomburg.

Marie Bues (Regisseurin und Künstlerische Leiterin des Theater Rampe Stuttgart) studierte Schauspiel an der Staatlichen Hochschule in Stuttgart. Seit 2008 inszeniert sie als freie Regisseurin u.a. am Staatsschauspiel Hannover, Theater Basel, Theater Osnabrück, Residenztheater München, Staatstheater Karlsruhe und am Nationaltheater Mannheim. An Produktionshäusern wie den Sophiensaelen Berlin, der Garage X Wien oder dem Schlachthaus Theater Bern arbeitet sie in unterschiedlichen freien Konstellationen. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet sie mit Autor*innen wie Felicia Zeller, Sivan Ben Yishai, Thomas Köck und Nicoleta Esinencu. Am Saarländischen Staatstheater war 2016/2017 ihre Uraufführungsinszenierung von »Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du« von Felicia Zeller zu sehen. In dieser Spielzeit inszeniert Marie Bues nun die Uraufführung »Verfahren« von Kathrin Röggla.