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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Eine Erfindung des 20. Jahrhunderts

Über zwei Jahrzehnte prägte ein gebürtiger Hallenser die Opernszene Londons in entscheidender Weise. Mit märchenhaft-musikalischen Werken wie »Arianna in Creta«, »Alcina« oder »Ariodante« gelang es ihm, seine kompositorische Vormachtstellung zu halten und seine Konkurrenz ein ums andere Mal in ihre Schranken zu weisen. Die Rede ist von keinem Geringeren als Georg Friedrich Händel, Sohn eines Chirurgen, der bereits im Alter von 14 Jahren seine erste (überlieferte) Komposition fertigstellte und wie kaum ein anderer Form, Inhalt und Ästhetik der frühen Gattung Oper prägen sollte. In vielerlei Hinsicht ist Händel ein Phänomen: Als europäischer Musiker, als höchst produktiver und vielseitiger Komponist, als gewiefter Unternehmer, vor allem aber in seiner Rezeption durch die Nachwelt.

Melissa Zgouridi (Ruggiero); Valda Wilson (Alcina) | Foto: Astrid Karger

»Kein großer Komponist wurde jemals von der Nachwelt so falsch dargestellt wie Händel«, brachte es der englische Händel-Forscher Winton Dean in einem Lexikon-Artikel auf den Punkt. Bereits kurz nach Händels Tod fokussierte sich die Wahrnehmung vornehmlich auf Händels große Oratorien, mit besonderem Augenmerk auf deren christlichen Gehalt (von dem nur allzu gern auf die Persönlichkeit des Komponisten rückgeschlossen wurde) und deren monumentale Chorsätze. Händels 42 Opern wurden dagegen kaum erwähnt geschweige denn geschätzt. Ihre dramaturgische Form galt als zu komplex, der erste Händel-Biograph und Herausgeber der ersten Werkausgabe Friedrich Chrysander sprach sogar von »Arien-Bündeln, durch Rezitiv-Fäden zusammengehalten«.

Erst im 20. Jahrhunderts kam es zu einer Renaissance der Händel’schen Opern, die von den Göttinger Händel Festspielen ausging. Hier brachte der Kunsthistoriker Oskar Hagen am 26. Juni 1920 »Rodelinda« auf die Bühne und löste damit eine Welle von Wiederentdeckungen aus, die zu weiteren Festspielgründungen, aber auch zu regelmäßigen Aufführungen an deutschen Theater- und Opernbühnen führten. Bereits in den 1920er Jahren sollten es progressive Regisseure sein, die sich der geschmähten Dramaturgie Händels Opera seria annahmen. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache mag es nur wenig verwundern, dass es mit dem Aufkommen des sogenannten »Regietheaters« eine neuerliche Welle an Händel-Interpretationen gab. Ein Umstand oder gar Privileg (?), welches Händels Werken zuteilwurde und anderen populären Komposten des Barocks wie Vivaldi oder Scarlatti und ihren Opern in diesem Maße nur bedingt vergönnt war.

Melissa Zgouridi (Ruggiero); Artavazd Sargsyan (Oronte) | Foto: Astrid Karger

Das Dramma per musica »Alcina« stellt dabei gleich in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit im gesamten (Opern-)Schaffen Händels dar. Zum einen sollte es einer der letzten großen Opernerfolge Händels sein und zum anderen gilt die Oper bis heute als Höhepunkt seines musikalisch-psychologischen Kunst.
In »Alcina« macht Händel weit mehr als eine phantastische Zauberin zur Protagonistin seines Werks, es ist auch weit mehr als die Geschichte eines magisch angereicherten Seitensprungs. Mit seiner Komposition stößt der Tonsetzer zu einer neuen Gefühls- und Ausdrucksästhetik des hervordrängenden bürgerlichen Zeitalters vor. Seine Figuren sind nicht mehr typisierte Schablonen, sondern ausdrucksvolle, realitätsnahe Charaktere, die in ihrem fehlerhaften, sich irrenden und suchenden Verhalten nur allzu menschlich erscheinen. Händels Tendenz zu einer Aufbrechung der Konventionen hin zu einem psychologisch schlüssigen Musikdrama scheint unverkennbar. Und mit diesen mannigfaltigen Deutungsmöglichkeiten zwischen Emotio und Ratio, Vernunft und Unvernunft, Natur und Zivilisation und jeglichen anderen Lebens- und Scheidewegen charakterisiert sich das emanzipatorische Potenzial »Alcinas« als zeitlos.

Melissa Zgouridi (Ruggiero) und Markus Jaursch (Melisso); auf der Projektion: Valda Wilson (Alcina) | Foto: Astrid Karger

Angesichts dieser dramaturgischen Eigenarten wie Herausforderungen, die einem Werk wie Händels »Alcina« immanent sind, der Vielzahl an Codierungen, die einer semantischen Neuübersetzung bedürfen, eine Musikdramaturgie, die mit ihrer Da-Capi-Form konträr zu Schnelllebigkeit und Effizienzsucht unserer Gesellschaft und durch ihr real-zeitliches Innehalten, die Deklination der Gefühlswelt des Menschen nahezu revolutionäres Potenzial im Heute hat.
Ohne Zweifel ist eine der wohl wichtigsten Fragen bei der Inszenierung einer Barockoper, die nach der musikalischen Fassung. Entstanden ist Händels Werk, obgleich er eben jene Konventionen bereits brach, in einem streng codierten Bezugsrahmen aus Gesten, Zeichen, Kostümen und einer konkretisierten Vorstellung vom Verhältnis Sänger – Bühne – Publikum. Ein sehr eng geschnürtes Korsett, welches gleichzeitig hübschen Spitzenbesatz bekommt durch eine Theaterpraxis seiner Zeit, die eben jenen strengen Konventionen konterkariert. Und damit einen Begriff in Frage stellt, mit dem Theaterschaffende insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder konfrontiert sind: Werktreue.

Valda Wilson (Alcina); iMove | Foto: Astrid Karger

Die Vorstellung, um nicht zu sagen, die Behauptung und die Erwartung, ein Werk wie Händels habe diese eine musikalische wie inszenatorische Gestalt ist vor allem eines: schlicht falsch. Der Begriff der »Werktreue« und alles, was er vermeintlich einschließt, sei es eine definitiv definierte musikalische Fassung oder eine allgemeingültige ästhetische Aufbereitung, ist ganz und gar eine Erfindung der Theaterrezeption des 20. Jahrhunderts, die sich bis ins Heute zieht.
Dabei lebten insbesondere die Werke des Barocks von der Gelegenheit des Moments, von Improvisation (s. Continuo), von Freiheit und gleichzeitiger Unfreiheit, die unterschiedliche Besetzungen, Aufführungsorte, Publikum etc. erforderten. Nicht selten änderte sich kurzfristig die sängerische Besetzung, sodass die Partie möglicherweise noch nicht vollumfänglich einstudiert war oder schlicht nicht gefiel, sodass eine oder mehrere Arien kurzerhand ausgetauscht wurden durch völlig stückfremde Arien, die aber wiederum der Virtuosität des Sängers zuträglich waren und damit auch der Erwartungshaltung des Publikums.
Der Begriff Werktreue beansprucht außerdem eine genaue Kenntnis des Werkes für sich und damit eine Kenntnis über die (vermeintliche) Intention des Komponisten. Doch wenn allein von Verdis »Don Carlos« mindestens(!) sieben verschiedene Fassungen existieren, die vom Komponisten selbst stammen oder doch von ihm autorisiert wurden, wenn es von Wagners »Tannhäuser« nicht nur »die« Dresdner oder Pariser Fassung gibt, sondern allein in Dresden schon zu Lebzeiten des Komponisten mehrere Varianten zur Aufführung kamen und Wagner zwischen 1845 und 1860 rund 70 Änderungen vorgenommen, den Schluss der Oper nicht weniger als vielmal musikalisch und dramaturgisch wesentlich umgestaltete … Ja, welche Fassung ist denn dann »werktreu«? Puccini starb, noch bevor er die Skizzen zum Finale von »Turandot« auskomponieren und fertigstellen konnte. Und nun? Der berühmte Rattenschwanz an Fragen, den diese Diskussion nach sich zieht und von Kürzungen, Übersetzungen, Übertitelungen (übrigens auch eine Erfindung des 20. Jahrhunderts), Besetzungen (Kastraten? Keine Frauen auf den Bühnen?) ganz zu schweigen… 


Bleibt ein Theaterabend wie dieser mit »Alcina«, was Theater ist: Eine Behauptung, ein Vorschlag, ein Angebot – ohne – und alles andere wäre vermessen – den Ehrgeiz (zeitloser) Gültigkeit.

Markus Jaursch (Melisso) und Melissa Zgouriddi (Ruggiero) | Foto: Astrid Karger

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

Noch zwei Mal haben Sie im Februar die Gelegenheit, Händels gleichermaßen wichtigste wie schönste Oper im Saarländischen Staatstheater zu erleben. Karten und weitere Informationen finden Sie hier.

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Auf ein Wort Theaterblog

DAS UNVERSÖHNLICHE VERSÖHNEN

In diesem Duett (oder Duell), das mit Sprache, Schweigen und allen verfügbaren Registern der Dramatik liebäugelt, erspielt sich der Spieler seine Lebenszeit, setzt sich mit dem Tod auf schier unerschöpfliche und humorvolle Weise auseinander; sie ringen miteinander, trösten und missverstehen sich wie zwei Vertraute. Leben und Tod – hinunter gebrochen auf die Theatersituation. Und wir, das Publikum, sind mit gemeint, tanzen den Totentanz mit. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit dem Autor Björn SC Deigner – über Kunst, das Politische und den Tod.

Bettina Schuster-Gäb: Was macht einen guten Stoff aus?

Björn SC Deigner: Das ist eine große Frage. Ich kann sie auch insofern schlecht beantworten, weil meine Stücke sehr verschieden sind. Vielleicht so: ich glaube an das Politische im Schreiben. Ich glaube an die Musikalität von Sprache, an die verführerische Abgründigkeit von Figuren auf der Bühne und das politische Moment, wenn sich Menschen zu einer Gruppe versammeln, die sich Publikum nennt. Und bei »Spieler und Tod« war es auch die Lust am Spiel. Das Vertrauen darauf, dass ein großes Thema ganz klein angepackt werden kann. Dass uns zwei Schauspieler auf der Bühne dazu verführen können, doch einem Schrecken in den Schlund zu schauen, auch wenn man herzlich gelacht hat dabei. Ich glaube mittlerweile, dass man als Kunstschaffender es auf eine gewisse Weise nicht vermag, mit der Welt in einen Gleichklang zu kommen – irgendetwas fehlt immer oder ist gerade zu viel. Das interessiert mich an der Welt: das Unversöhnliche zu versöhnen und das Versöhnte wieder zu bezweifeln.

B. S.-G.: Der Tod – ein großes Thema. Wie und warum hast du dich ihm angenähert?

B.D.: Jeder Mensch, der sich mit Kunst beschäftigt, hat es mit dem Tod zu tun. Als Sujet eines Bildes wie bei Dürer; oder als auslösender Konflikt eines Stückes bei Schiller oder Shakespeare zum Beispiel. Wenn man durch die Künste geht, bemerkt man, wie präsent der Tod als Topos immer war – auch unabhängig von kirchlicher Prägung. Insofern ist es vielleicht eher fraglich, wie wenig der Tod, auch im gesellschaftlichen Miteinander, vorkommt (auch wenn es sich durch die Pandemie gerade anders gestaltet). Das professionalisierte Abschieben des Vorganges des Sterbens in Institutionen wie Hospize oder Altersheime wurde durch die Corona-Krise aufgerissen; ich denke aber, durch die systemischen Stellschrauben, die unser Zusammenleben fixieren, wird auch das bald wieder vergessen sein. Wir leben – noch – unter dem Leitsatz von Wachstum, Erweitern und Vergrößern. Da hat Verlust, Scheitern, Tod wenig Platz. Das war die Hintergrundstrahlung für die Idee, ein Stück über den und mit dem Tod zu schreiben. Um dann leicht zu werden: ein Abend, an dem wir dem Tod ins Gesicht lachen. Dass er uns trotzdem einholt, dass wissen wir ja ohnehin…

»Spieler und Tod«: Weitere Vorstellungstermine: 22.1., 29.1., 6.2., 18.2., sparte4 © Martin Kaufhold

B. S.-G.: Ist der Spieler ein guter Mensch?

B.D.: Was ist ein guter Mensch – oder noch schlimmer: was gar ein schlechter? Ich glaube, die Literatur ist ein Ort, wo alle Menschen gebraucht werden. Wir wollen sie dann lieben oder hassen, leiden mit ihnen oder wir lehnen sie ab. Aber wir verhalten uns doch zu ihnen. Ob sie dafür gute oder schlechte Menschen sind, ist beinahe zweitrangig, es zählt eher der Graubereich dazwischen. Eine gute Figur wäre der »Spieler«, wenn sie es schaffen würde, dass wir uns von ihr abgrenzen, darum über sie lächeln, zugleich aber wieder zu ihr finden dürfen und plötzlich getroffen sind davon, wie auch diese Figur verzweifelt sein kann, kindlich, voller Angst. Dann wäre vielleicht der »Spieler« nicht unbedingt ein guter Mensch, aber immerhin eine gute Figur.

B. S.-G.: Und die Figur des Todes?

B.D.: Der Tod, so wie er in meinem Stück vorkommt, hat mich aus zwei Gründen sehr gereizt: zum einen ist er ein recht schweigsamer Spielpartner. Das ist szenisch interessant, weil in jeder Szene ein grundsätzliches Missverhältnis zwischen den beiden Figuren besteht, zumal der »Spieler« sehr viel spricht. Dieses Missverhältnis ist grundlegende Bedingung für Humor, glaube ich. Und zugleich bildet es eine Grundspannung, mit der jede Szene umgehen kann. Zum anderen ist der Tod – auch auf unserer Bühne – immer nur eine kulturelle Repräsentation. Was könnte mehr Theater sein! Der Tod ist immer schon inszeniert und hat sich – oder wurde – über die Jahrtausende immer anders in Szene gesetzt. Das war mir wichtig für die Figur des Todes, die älter als das Christentum ist: sie fragt nicht nach Schuld, sie erlöst nicht, sie kann auch nicht drohen. Sie kommt einfach und macht keinen Unterschied.

B. S.-G.: Wie weltlich ist also der Tod?

B.D.: Das Nicht-Einverstanden-Sein mit der Welt, weil ein Mensch gehen musste, den man bei sich haben wollte: das ist eine Erfahrung, die vermutlich jeder Mensch schon einmal machen musste, oder die einem unweigerlich noch bevorsteht. Ich glaube, dass darin ganz fundamental eine politische Kraft liegt. Die Verhältnisse, wie sie scheinen, nicht zu akzeptieren, ist auch ein politisches Potential. Im alltäglichen Leben geht ein Bewusstsein dafür, dass Welt auch ganz anders sein könnte, ja immer verloren. Einschnitte wie der Tod, die in ihrer Andersartigkeit keine Rücksicht nehmen (ob es uns gerade passt zum Beispiel), zeigen uns auf, dass wir konfrontiert werden mit Welt und uns darin entweder abfinden müssen oder aufbegehren dagegen. Das empfinde ich sehr politisch. Abseits davon ist vor allem das Sterben politisch und zwar ganz profan: wer kann es sich leisten, wie zu sterben? Bei den Liebsten zuhause, mit einer privaten Pflegekraft – oder im Mehrzimmerbett, verpflegt und gesäubert durch wechselnde Schichten überarbeiteter Pflegekräfte.

Der Tod selbst – zumindest wir er uns im Stück erscheint –, macht keine Unterschiede. Und darin ist er wohl seltsam unpolitisch. Und das kann man ihm neiden: Menschen brauchen schließlich Politik, um sich über Fragen einig zu werden, auf die es kaum eine Antwort gibt. Der Tod scheint von diesen Fragen unberührt.

Björn SC Deigner, geboren 1983 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Deigner ist Autor für Theater und Hörspiel, sowie Sounddesigner und Komponist an verschiedenen deutschen Stadttheatern (u. a. Thalia Theater Hamburg). Seine Texte wurden eingeladen zu den Autorentheatertagen 2018 am Deutschen Theater Berlin sowie 2019 zum Heidelberger Stückemarkt.

Das Interview führte Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin mit Sonderprojekt Festivalleitung und Programmdramaturgie »Festival Primeurs« & »Primeurs PLUS«

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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Wir feiern das Doppel-Jubiläum

125 Jahre Alte Feuerwache – 40 Jahre Spielstätte Alte Feuerwache

… mit einem Gastspiel der Theaterakademie München »Noch ist nicht aller Tage Abend«, der Premiere »Der Weg zurück«, dem Start einer Diskussionsreihe zum Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT! und im Sommer mit einem Theaterbrunch auf dem Landwehrplatz.

Anno 1897 wurde die Alte Feuerwahr nach Plänen des Architekten Wilhelm Franz als Städtische Turnhalle des Turnerbundes St. Johann sowie als Feuerwehrhaus im Erdgeschoss fertiggestellt. Nach Neugestaltung der Innenräume durch den Architekten Lu Kas entstand dann 1982 aus der Turnhalle die zweite Spielstätte des Saarländischen Staatstheaters. Mit der Kabarett-Revue »Von Kopf bis Fuss auf Deutschland eingestellt… « zusammengestellt von Herbert Hauck, Jürgen Kirchhoff und Gottfried Stramm wurde sie am 16. Januar 1982 als Raumbühne mit einer variablen Bestuhlung von maximal 240 Zuschauerplätzen eröffnet und zur künstlerischen Heimat des Sprechtheaters.

»Der Umbau der Feuerwache zur kulturellen Nutzung ist ein Versuch Schwellenängste abzubauen und einem eingefahrenen Kulturbetrieb neu Impulse zu geben, um damit das kulturelle Leben unserer Stadt reicher zu machen«. (Aus der Neujahrsansprache des damaligen Oberbürgermeister Oskar Lafontaine)

Der damalige Schauspieldirektor Lothar Trautmann verstand die neue Spielstätte als »Freiraum künstlerischer Phantasien« und als eine Einladung »in Sachen ‚Theater‘ auf Entdeckungsreise zu gehen“.

Diese Einladung gilt bis heute! So ist auch unter dem Intendanten Bodo Busse und der Schauspieldirektorin Bettina Bruinier die Alte Feuerwache ein Ort der unterschiedlichsten Theater-Erlebnisse aller Sparten des Saarländischen Staatstheaters, aber auch der Festivals LOOSTIK, PRIMEURS, PERSPECTIVES oder dem TANZFESTIVAL SAAR.

Die Alte Feuerwache im Jahr 2020 © Honkphoto

Schon im ersten Jahr der neuen Intendanz wurde die Alte Feuerwache beispielsweise in einen Werbe-Lichtkasten (LICHT IM KASTEN), in ein Live-Hörspiel-Studio (WINNETOU), in eine Raumstation (SOLARIS), in ein Wasserbecken (IPHIGENIE) oder in ein Schlachtfeld (DAS WUNDER UM VERDUN) verwandelt. Es folgten Rauminstallationen u.a. für DAS ACHTE LEBEN (FÜR BRILKA) von Nino Haratischwili, der Uraufführung WERWOLF von Rebekka Kricheldorf oder GAME OVER, eine Open-World-Simulation von Prinzip Gonzo.

»Das Wunder um Verdun« in der Spielzeit 2017/2018 © Martin Kaufhold

So blieb die Alte Feuerwache bis heute ein »Freiraum künstlerischer Phantasien« für Ausstattung und Regie, wenn auch die alte Zuschauer-Tribühne in die Jahre gekommen und leider nicht mehr variable ist. Eine Erneuerung steht dringend an!

In dieser und in der vorhergehenden Spielzeit brachte allerdings die Corona-Pandemie auch den Spielplan der Alten Feuerwache tüchtig durcheinander. Immer wieder mussten neue Wege des Spielens und Erzählens gefunden und auf die jeweiligen Vorgaben des Arbeits- und Infektionsschutzes reagiert werden. Doch Dank Impfungen und Testungen müssen auf der Bühne wenigstens die einschränkenden Abstandsregeln nicht mehr eingehalten werden.

Mit Beginn des neuen Jahres und unter Berücksichtigung der 2G+ Regeln freuen wir uns, endlich auch den regulären ABO-Spielbetrieb wieder aufnehmen und allen Theaterfans einen abwechslungsriechen Spielplan anbieten zu können.

»Puck träumt eine Sommernacht« ©Astrid Karger

So stehen im Schauspiel nicht nur die Produktionen »Puck träumt eine Sommernacht« – eine Stückentwicklung von Alice Buddeberg und Ensemble nach William Shakespeares Komödie »Ein Sommernachtstraum«, das Lustspiel »Trüffel Trüffel Trüffel« von Eugène Labiche in einer Inszenierung von Julia Prechsl und das Schauspiel »Gabriel« von George Sand als deutsche Erstaufführung in der Regie von Sébastien Jacobi, sondern auch die Wiederaufnahme und Neueinrichtung Bettina Bruiniers Inszenierung »Weh dem, der aus der Reihe tanzt. Sulzbach« nach dem Roman von Ludwig Harig und die erste Premiere im neuen Jahr »Der Weg zurück« des Engländers Dennis Kelly in der Regie von Christoph Mehler auf dem Programm.

»Der Weg zurück« © Martin Kaufhold

Außerdem kann man am 6. Januar das Gastspiel der Münchner Theaterakademie August Everding »Noch ist nicht aller Tage Abend – Eine Vision in vier Bildern nach Werner Schwabs ‚Volksvernichtung‘ mit Texten von Nietzsche, Lem und einer künstlichen Intelligenz« der Regieabsolventin Malena Große erleben.

»Noch ist nicht aller Tage Abend« ©Alvise Predieri

So wollen wir auch einer ganz jungen aber schon mit einem Preis für die beste Regie ausgezeichneten Regiehandschrift einen Raum geben und Sie einladen, sich auf das Spiel um die Frage: Wie verändert sich das Menschenbild in einer digitalisierten Welt? einzulassen.

Denn die Alte Feuerwache ist nicht nur eine wunderbare Raumbühne und zweite Spielstätte des Saarländischen Staatstheaters, sondern seit ihrer Eröffnung auch immer wieder eine Begegnungsstätte mit zahlreichen Sonderformaten wie Einführungen, Lesungen oder Gesprächen rund um das Theater. Und seit der Eröffnung des Weinbistro Hauck im Jahr 2011 hat die Alte Feuerwache auch einen geselligen Treffpunkt nicht nur vor und nach den Vorstellungen bekommen. Siehe auch www.hauck-weinbistro.de

Am 6. Februar starten wir dann mit einer Diskussionsreihe zu unserem aktuellen Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT! Unter dem Motto IN ZUKUNFT KUNST! sprechen wir mit der neuen Kulturdezernentin der Stadt Saarbrücken Dr. Sabine Dengel und der Leiterin der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz Dr. Andrea Jahn über Kunst und Kultur in der Stadtgesellschaft. Wie sieht heute – nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie – gesellschaftliches Leben in Saarbrücken und Deutschland aus? Wo findet es (noch) statt? Wer bestimmt den Diskurs und welche Bedeutung können dabei Kunst und Kultur spielen?

Aber was wäre ein Jubiläum ohne Fest? Und so laden wir Sie zum Abschluss der Spielzeit zu einem geselligen Brunch mit künstlerischen Beiträgen auf dem Landwehrplatz vor der Alten Feuerwache im Rahmen des Kulturmeilenfestes 2022 ein.

SAVE THE DATE: Sonntag, 17. Juli, ab 11 Uhr!

Horst Busch,
Chefdramaturg
Künstlerischer Leiter Schauspiel

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Stimmen der Stadtgesellschaft: das ensemble4 in »der Besuch der alten Dame« stellt sich vor. Teil III

Die Inszenierung von Gustav Rueb berücksichtig 10 Spieler*innen, die aktiv als Expert*innen am Prozess der Inszenierung beteiligt wurden. Den Bürger*innen Saarbrückens soll durch das ensemble4 eine Stimme gegeben werden. Maria Siener ist eine davon.

Maria Siener als engagierte Bürgerin in »Der Besuch der alten Dame«        
© Martin Kaufhold

»Ich wünsche mir für unsere Stadt mehr Barrierefreiheit«

Maria Siener brennt für Theater und Musik. Sie liebt es sich kulturell berieseln zu lassen genau so wie selbst Kultur zu schaffen. Im Theaterverein bastelt sie an Theaterstücken und steht auf der Bühne. Mit ihrer Gitarre und ihrer Stimme kehrt sie »ihr Innerstes nach außen«. Mit der gleichen Leidenschaft übt sie ihren Beruf aus: Das Unterrichten. Maria ist Lehramtsanwärterin für Förderschulen. Mit Schüler*innen zu musizieren und theaterpädagogisch zu arbeiten hat für sie einen hohen Stellenwert und einen besonderen Reiz.

Maria ist Teil des Bürger*innenensembles »ensemble4« und bereichert die Gruppe nicht zum ersten Mal. Sie war beispielsweise bereits in »Hexenjagd« zu sehen und bereichert die Expert*innengruppe vor allem durch ihr theaterpädagogisches Verständnis von Theater und ihren feinfühligen Sinn für Gruppenkonstellationen. Marias Engagement für kulturelle Vermittlung ist ein wichtiger Baustein des ensemble4. Sie ist ein Beispiel für eine wirklich aktive Zuschauerin des Saarländischen Staatstheaters und trägt ihre Begeisterung weiter.

Bei der Frage nach ihrem Engagement für Saarbrücken und ihr Verhältnis zu ihrer Heimatstadt, antwortete sie:

»Ich wünsche mir grundsätzlich mehr Barrierefreiheit auf der ganzen Welt für alle Menschen, die mit Barrieren zu kämpfen haben. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist das Recht eines jeden Menschen, wir alle sind gleichwertig, unabhängig von äußeren Merkmalen oder auferlegten Etiketten. Doch erst wenn die Rahmenbedingungen passen, kann Teilhabe gewährleistet sein. Ein Mensch wird auch behindert durch beispielsweise fehlende barrierefreie Toiletten oder durch Stufen vor Apotheken und Geschäften ohne Rampe oder Aufzug, die es Menschen mit Rollstuhl unmöglich machen, diese Geschäfte zu betreten. Mittlerweile gibt es, der Digitalisierung sei Dank, viele Hilfsmittel wie bspw. die App „Wheelmap“, eine digitale Stadtkarte, anhand derer man direkt erkennen kann, welche Örtlichkeiten für Rollstuhlfahrer barrierefrei sind. Aber auch Städte und Kommunen können aktiv werden. Da Saarbrücken (bzw. der Regionalverband) seit Sommer 2021 meine Wahlheimat ist, wünsche ich mir als Bürgerin von ganzem Herzen zu dem Thema Barrierefreiheit mehr Engagement und Aktivität. Inspiration liefern Städte wie Marburg, genauer das Marburger Stadttheater, in dem Menschen mit Sehbeeinträchtigung auf Audio-Inhaltsbeschreibungen einzelner Stücke zurückgreifen können, um stumme, rein optisch dargestellte Inhalte überhaupt erfassen zu können.

Am meisten am Saarland schätze ich, dass man hier schnell überall ist. Mein Lieblingsspaziergang geht um den Itzenplitzer Weiher. Den besten veganen Burger finde ich in St. Wendel. Und Saarbrücken selbst bietet mir alles was ich als Kleinstadtmensch (Zweibrücken) schon immer vermisst habe«

Luca Pauer, Leiterin ensemble4

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Auf ein Wort Theaterblog

ÜBERSETZUNG BEDEUTET BEWUSSTSEIN

Über eine grundsätzliche Infragestellung binärer Welten im Stück GABRIEL von George Sand

Schauspieler, Regisseur, Übersetzer: Sébastien Jacobi.

B.S.-G.: Sébastien Jacobi, was ist das Besondere an George Sand, an ihrem Universum?

S.J.: George Sand deckt mit ihrem biographischen Hintergrund und erzählerischen Ausrichtung ein ganzes Jahrhundert ab. Im Stile des 19. Jahrhunderts ist sie philosophische Autorin und mit ihren Erzählungen zugleich eine Sozial-Reformistin. Das ergibt ein ganz eigenes Universum.

B.S.-G.: Was ist das für eine Zeit?

S.J.: Das ist eine Zeit, in der das Individuum, der individuelle Blick populär wird. Dennoch ist er angebunden an ein gesellschaftliches Gesamtgefüge. Ich persönlich habe ein ausgesprochenes Faible für diese Literatur. Bei den großen Autor*innen wie Sand, Proust, Balzac, Dostojewski, Hugo wird das Leben als Roman betrachtet und ist gesellschaftlich relevant auch im Profanen. Auch George Sand spült gewisse Perspektiven einmal durch das Individuum hindurch und erhält sehr subjektive Betrachtungen von Welt, die wiederum auf das Große-Ganze zurückwirken. Ihr geht es nicht um Bebilderung von Zuständen, sondern um den Menschen in seiner sozialen Dimension und seinen sozialen Forderungen.

B.S.-G.:Wenn du von der menschlichen Autorin sprichst, meinst du damit, dass sie individualistisch strebende Menschen beschreibt oder eher einer Art soziale Ausrichtung ihrer Stoffe?

S.J.: Letzteres, genau. Sie beobachtet hart, beschreibend, arbeitet autobiographisch, aber bleibt fiktiv, und fordert reelle gesellschaftliche Veränderungen ein. In GABRIEL ist es ein veränderter Status der Frau. Oder fast noch mehr die gänzliche Abschaffung der geschlechtlichen Kategorie, mit der sie sehr viel Ungleichheit verband. Nie sind ihre Geschichten privat, immer von gesamtgesellschaftlichem Belang.

B.S.-G.: Wie tut sie das?

S.J.: Über eine Art Ideendrama mit philosophischer Argumentation, die man sich als Publikum aber ganz psychologisch und emotional vorstellen muss. Und das ist sehr modern! Es gibt Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Textflächendramen, aber wiederum auch zu shakespearesker Komik oder auch Blutrünstigkeit. Auch eine Tarantino-Note sehe ich in ihr – sie liebt das absurd Dramatische, Mantel-Degen-Geschichten, das Aufs-Ganze-Gehen. Darin ist sie höchst realistisch und filmisch.

B.S.-G.: Du hast nun nicht das gesamte 200-seitige Drama auf die Bühne gebracht, sondern hast dich als Regisseur fokussiert: auf das Dramatische, das Vorantreibende, auf die Grundideen. Welches sind das?

S.J.: Was ich verschlankt habe, um stärker vom Heute zu erzählen, ist ein gewisses gesellschaftliches Machtgefüge, ein religiöses Machttableau. Das Herrschaftsgefüge, benannt mit dem alten Prinzen Jules, fand ich hingegen als Grundaufstellung sehr hilfreich, um den Sprung in die Gegenwart zu schaffen: die Distanz zu einer märchenhaften Handlung mit Schloss und Adel lässt sich ohne Weiteres auch auf den Abgesang des weißen alten Mannes lesen. Ich habe mich in meiner Fassung auf die Entwicklung von Gabriel konzentriert; auf seinen/ihren Bewusstseinsprozess und Anspruch auf Selbst- statt Fremdbestimmung. Sand nannte das »Freiheit«.

Dramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit Sébastien Jacobi. Foto © Paul Gäb.

B.S.-G.: Macht es einen Unterschied im Übersetzen, wenn du weißt, was du auf der Bühne erzählen willst?

S.J.: Ich mache Regie aus dem Gefühl oder den Erfahrungen eines Schauspielers heraus, gehe sehr von der Logik des Spielers aus – wie ich zu einer Form, zu einer Aussage komme. Ähnlich gehe ich auch die Übersetzung an: Ich habe versucht die Sprache zu erhalten, mich bewusst gegen eine Modernisierung der Sprache entschieden, die Höflichkeitsform »Ihr/Euch« ist zudem genderneutral. Mein Anspruch war stets eine Gesamtübersetzung zu denken – genutzt habe ich die Übersetzungsarbeit am gesamten Stück letztlich, um zu einer Fassung zu gelangen, einen Ausschnitt zu wählen. Was interessiert mich konkret für ein szenisches Erzählen? Welche Situationen, Dialoge und Konflikte sehe ich mit welcher Personnage erzählt? Welche Figuren brauche ich? Wie rhythmisiere ich den Text für ein szenisches Geschehen?

B.S.-G.: Dient die Inszenierung der Sprache oder die Sprache der Inszenierung?

S.J.: Beides. Die »alte«, vielleicht fremdartig formulierende Sprache ist mir ein wichtiges inszenatorisches Mittel: Über Sprache eine gewisse Distanzhaltung beim Publikum zu erzeugen, erleichtert die Draufsicht und schafft Bereitschaft sich der Aktualität auszusetzen. Einen vermeintlichen Schritt weiter weg zu stehen, tut der Kunst also gut. Im Falle von GABRIEL können Genderfragen weitaus allgemeingültiger betrachtet werden. Sand war in der sozialen Debatte sehr weit – so wie ihre Zeit, wodurch sie auch so zeitgemäß wirkt, aber eben mit einer Begrifflichkeit von 1837. Das Aushandeln und Sich-Ausprobieren in diversen Rollen ist Gegenstand von GABRIEL, so auch von Theater an sich – Geschichte wie Form sprechen sich gegen starre Identitäten aus.

B.S.-G.: Die Figur Gabriel, die wir am Ende sehen, fordert ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Veränderbarkeit von Identitätsvorstellungen ein, und zwar unabhängig vom biologischen Geschlecht.

S.J.: Deshalb gehe ich in der Inszenierung auch sehr stark über das Bild der Kunst – Gabriel ist ein/e Künstler/in, die eben diese andere Logik, diese performative Sicht verfolgt. Gesellschaftliche Normen aus einer anderen Position heraus in Frage zu stellen ist ihr Bestreben. Das Stück geht nicht von befreiten Individuen aus, es geht nicht um diese permanente individualistische Selbstbestimmung, sondern um die grundsätzlichere Infragestellung binärer Welten.

Foto © Honkphoto

Sébastien Jacobi erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/Main. Festengagements führten ihn an das Theater Basel, Theater Dortmund, Schauspiel Köln und an das Schauspiel Frankfurt. Darüber hinaus gastierte er u.a in Mainz, Darmstadt oder Berlin und arbeitete immer wieder auch als Regisseur . So inszenierte er in Den Haag und Stockholm im Auftrag des Schauspiel Frankfurts für das Dramaten sowie am Schauspiel Frankfurt, dem Theater Bielefeld und dem Staatstheater Stuttgart. In Saarbrücken waren bisher seine Bio-Pics »Reise Reiser« über den Sänger Rio Reiser und »Mélodie! Maladie! Mélodrame!« über die Schauspielerin Ingrid Caven zu sehen.

Im Rahmen des Symposiums zu Theaterübersetzung »Primeurs Plus« wird Sébastien Jacobi Impulsgast sein und über sein Verhältnis zu Übersetzung, Sprache und Inszenierungsarbeit sprechen: www.festivalprimeurs.eu/primeurs-plus.

Bettina Schuster-Gäb,
Schauspieldramaturgin und Leitung Festival Primeurs

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Auf ein Wort Theaterblog

Molière in Minecraft spielen

Wilke Weermann über Theater und Computerspiele.

Du schreibst die Stücke, die du inszenierst meist selbst. Wie ist bei dir das Verhältnis von Schreiben und Inszenieren?

Also geschrieben habe ich schon immer. Das Schreiben für das Theater wurde aber erst durch das Regiestudium initiiert.

Zum Probenbeginn gab es keinen fertigen Text, sondern du hast das Stück mit Ensemble und Team gemeinsam entwickelt. Ist das deine übliche Arbeitsweise?

Es gibt auch Stücke, die am Schreibtisch entstehen, z.B. »Hypnos«, das beim Heidelberger Stückemarkt nominiert wurde. Aber im Prinzip will ich bei einer gemeinsamen Arbeit nicht alles vorgeben und kontrollieren, sondern die kreativen Kapazitäten aller nutzen. Bei der Filmvorlage geht es ja um einen Chirurgen, der seiner Tochter die Gesichter anderer Frauen transplantiert und sie total dominiert. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem Autor, der den Text für eine Schauspielerin schreibt, und diesem Vater. Das Thema hat sich in meinem Arbeitsprozess seltsam wiederholt. Das wollte ich kreativ nutzen.

Im Sommer 2021 bist du für ein Stipendium am Institut für Digitaldramatik des Mannheimer Nationaltheaters nominiert worden. Gibt es für dich Parallelen zwischen Computerspielen und Theater oder muss man für digitale Formate ganz anders schreiben?

Videospiele und Theater sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich. Beim Videospiel trifft man als Spieler Entscheidungen, die den weiteren Spielverlauf bestimmen, was im Theater eher nicht der Fall ist. Trotzdem ähneln sich beide in der Funktionsweise der Blickführung, die sich z.B. sehr vom Film unterscheidet. Im Film kann man den Blick der Zuschauer lenken, indem man Sachen, die man sehen soll, ins Bild rückt, z.B. durch Großaufnahmen. Bei Videospielen und im Theater hat man diese Möglichkeit nicht, man muss Wege finden, um die Aufmerksamkeit zu leiten. Ich denke, da können Videospiele und Theater viel voneinander lernen.
Ich war mal bei einem Vortrag über das Thema Blickführung von Leuten, die 3D-Filme produziert haben. Die hatten in einer Szene extra eine fliegende Taube eingebaut, weil man dann eher dieser Taube mit den Augen folgt und weiter vorne hinguckt. Solche Effekte sorgen dafür, dass die Leute mitbekommen, was im Spiel gerade wichtig ist. Und um Blickführung geht es auch auf dem Theater.
Wohin leitet ein bestimmtes Licht die Blicke der Zuschauer, welchen Ton setze ich ein, um die Konzentration der Zuschauer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Was diese szenischen Vorgänge angeht, sind Videospiele und Theater sehr nah beieinander.
Es gibt Events, die werden im Spiel dadurch ausgelöst, dass man etwa an einen bestimmten Ort geht oder dass eine bestimmte Zeit verstreicht. Also als praktisches Beispiel:  Eine Figur setzt sich an einen Tisch, dadurch fängt die Kellnerin an, auf sie zu zulaufen, um sie dann zu fragen, was sie trinken möchte.
So sind im Grunde auch Theater Szenen organisiert, die ganze Theatermaschine hat solche Abläufe. Wenn die Schauspielerin Anne Rieckhof sich in »Augen ohne Gesicht« (»Daughter`s Cut«) in der Doktorszene nach vorne dreht und anatmet, dann gibt es den Lichtwechsel und den Soundwechsel und dann sagt sie den Satz und auf der emotionalen Ebene ist das dann der Triggerpunkt, an dem die Schauspielerin Emilie Haus darauf reagiert.
Viele Vorgänge im Theater lösen einander auf diese Weise aus, auch in ganz psychologischen Stücken, die sich scheinbar frei entfalten. In meinen Inszenierungen greife ich das oft auf und mache solche formalen Elemente spielerisch sichtbar.

Wenn der Scheinwerfer in deiner Inszenierung z.B. erst auf das Telefon schwenkt, bevor es zu läuten beginnt?

Ja, das ist z.B. so ein Moment, wobei der Scheinwerfer wiederum von dem emotionalen Moment ausgeht, den die Schauspielerin gerade spielt.  

Wenn du über Formate Digitaler Dramatik nachdenkst, würde dir da eher ein Projekt einfallen, das komplett im digitalen Raum stattfindet oder denkst du über Mischformen nach, bei denen immer noch Leute im Zuschauerraum zusammenkommen?

Ich fände es grundsätzlich interessant, beides zu vermischen, also z.B. Molière in Minecraft zu spielen (1). Aber noch spannender finde ich die Herausforderung, Spiel-Konzepte auf Inszenierungen zu übertragen. Da gibt es nämlich sehr interessante Ideen, Ästhetiken und Geschichten.
Also z.B. das Spiel-Moment, dass der/die Spieler*in das Spiel durch Entscheidungen selber eingreift. Und das wirklich als Entscheidungsbaum, wo solche Entscheidungen den Theaterabend total unterschiedlich sein lassen.
Oder man könnte eine Art Fernsteuerungsidee umsetzen. Ein*e Schauspieler*in hat eine Kamera, die eine Third Person-Perspektive einführt, mit der sie sich in einem Siedler artigen Raum bewegt (2). Das sind jetzt Möglichkeiten, die es in Ansätzen schon in Theaterinszenierungen gibt und nur erste Ideen. Aber man kann da sicher noch mehr übertragen und weiterentwickeln, das für eine bestimmte Ästhetik nutzen. Ich habe zumindest Lust darauf.

Das Gespräch wurde von Maxine Theobald transkribiert.  

(1) (Anm.: Minecraft ist ein Sandbox-Computerspiel, bei dem der Spieler Konstruktionen, wie Gebäude oder Schaltkreise aus zumeist würfelförmigen Elementen in einer dreidimensionalen Welt erschafft und sich darin bewegt.)

(2) (Anm.: Die Siedler ist eine Computerspielreihe, bei dem es darum geht durch geschickte Strategien eine Siedlung aufzubauen)